Alexander Lernet-Holenia

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Phantastik und Heraldik

Überlegungen zu A. Lernet-Holenias Roman Der Graf Luna

Jean-Jacques Pollet

(aus Winfried Freund, Johann Lachinger und Clemens Ruthner: Der Demiurg ist ein Zwitter, Wilhelm Fink Verlag)

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Von den Daten her gehört Der Graf Luna, der letzte phantastische Roman Alexander Lernet-Holenias, wohl zur sogenannten 'littérature d'actualité' - der gegenwartsbezogenen Literatur. 1955 veröffentlicht, handelt er nämlich retrospektiv von einer Geschichte, die um das Jahr 1940 in Wien anfängt und im Mai 1954 in Rom ihren Abschluß findet. Dieser geschichtliche Rahmen erlaubt dem Romancier, auf das, was er selber "die Besetzung des Landes durch die Deutschen" nennt (GL 36), zurückzukommen; und das Urteil, das er über diese Periode fällt, entspricht ganz genau seinem schon im vorangegangenen Roman Der Graf von Saint-Germain geäußerten Denken. Diese 1948 erschienene Fiktion parallelisiert nämlich das Schicksal der Hauptgestalt, des weltfernen Ästheten Philipp Branis, mit dem des Kaufmannssohnes des Märchens der 672. Nacht Hofmannstals, das der Text A. Lernet-Holenias fast wörtlich übernimmt: Die Nazi-Wirklichkeit spielt für Branis dieselbe Rolle wie die fremde, tückische Stadt für den jungen Kaufmannssohn, nämlich die eines verhängnisvollen Erlebnisses der Häßlichkeit der Welt. Eine ähnliche Meinung vertritt die Hauptfigur von Der Graf Luna, ein gewisser Alexander Jessiersky, der Industrieller wie Philipp Branis ist. Er braucht sich wie dieser nicht viel um seine Geschäfte zu kümmern, weil das mütterlicherseits geerbte Transportunternehmen "von selbst lief" (GL 36). Mit dem Nazi-Alltag konfrontiert, "ging ihm zum erstenmal eine Ahnung von der wirklichen Häßlichkeit des Lebens auf" (GL42).

Während aber die Geschichte des Philipp Branis 1938 endet, umfaßt die von Alexander Jessiersky die darauf folgenden Jahre, die des nazistischen Österreich, des militärischen Zusammenbruchs, der 'Befreiung' und der Besatzung durch die Alliierten, des beginnenden kalten Krieges und wirtschaflichen Wiederaufbaus im Rahmen der Marshallplan-Hilfe. Auffallend ist, daß die Neuordnung der ersten Nachkriegsjahre vom Standpunkt Alexander Jessierskys aus - und wohl auch des Romanciers - die prinzipielle Häßlichkeit des Wirklichen nicht aufhebt, ganz im Gegenteil. Mit völliger Illusionslosigkeit vermerkt er, daß die amerikanische Besatzungsmacht sehr früh begann, sich von den innenpolitischen Problemen der Bevölkerung abzuwenden, um allein ihr eigenes, wirtschaftliches sowie außenpolitisches Interesse gegen ihren bisherigen sogenannten Verbündeten im Osten zu verteidigen, und damit also sehr bald zu verstehen gab, daß "der Kampf gegen das Dritte Reich in der Tat nur etwas vorübergehend Überschätztes gewesen sei" (GL 60). Dies bekräftigt ihn in der Überzeugung, daß die Welt von heute "eine Welt von Händlern geworden ist, die bloß zwischendurch Kriege führen" (GL 55). Voll höhnender Verachtung spottet er außerdem über das Anpassungsvermögen von einigen seiner Landsleute, die sehr schnell einsahen, daß "die Politik im Begriffe sei, den Spieß, den sie eben umgedreht hatte, neuerlich, d.h. in seine alte Richtung, umzudrehen" (GL 69) und sogar so weit gingen, sich öffentlich nach der guten Zeit zu sehnen, da "die Organisation nicht versagte" (GL 77). Der Verfallsprozeß, der aus der Sicht Lernet-Holenias bekanntlich mit dem Ende der Monarchie eingesetzt hat - dieses Gestern ist der Hauptbezugspunkt all seiner Romane - und in dessen Lauf das Hitlerregime, die Niederlage und das Chaos der Nachkriegszeit nur Etappen bilden, scheint also unwiederbringlich zu sein. Das Urteil wird aber hier - vergleicht man mit Die Standarte (1934), z.B. - ohne Nostalgie und vor allem nicht von einem "reaktionären" Aristokraten ausgesprochen, sondern, wie in Der Graf von Saint-Germain, gerade von einem "Händler", der an der Entwicklung der neuen Zeit teilhat und seinen Bedenken zum Trotz sogar zynisch davon profitiert. Paradox, und nicht mehr fremd, steht nun der Holeniasche Held der Gegenwart gegenüber.

Angesichts der Häßlichkeit der Welt bzw. der Realität des Faschismus erscheint nun Alexander Jessiersky auf jeden Fall viel schlimmer kompromittiert als Philipp Branis. Die Tatsachen sind folgende: Nach der Eingliederung Österreichs in das Dritte Reich konnte sich selbst dieser "hartnäckig Untätige" der allgemeinen Sucht, tätig zu sein, nicht erwehren. Um das Jahr 1940 überredeten ihn seine Direktoren, bestimmte Grundstücke für die Errichtung neuer Lagerhäuser zu erwerben. Diese Grundstücke gehörten einem gewissen Grafen Luna, der sich bald weigerte, die von seiner Mutter geerbten Güter zu verkaufen; Jessierskys Direktoren erklärten sich aber bereit, ihn dazu zu zwingen - was sei schließlich der Wunsch eines einzelnen "gemessen am Expansionsbedürfnis eines großen Unternehmens!" (GL 38). Obwohl Jessiersky damit nicht übereinstimmte, ließ er seine Leute gewähren. Als er erfuhr, daß der Graf Luna nicht nur enteignet, sondern durch die Geheime Staatspolizei in das Zwangsarbeitslager Mauthausen geschickt worden war, erwachte er aus seiner Gleichgültigkeit, aber da war es schon zu spät. Er setzte nun alles in Gang, um Luna freizubekommen, aber vergeblich. Sogleich nach dem Zusammenbruch gehörte es für Jessiersky zu den ersten Dingen, Erkundigungen einzuziehen, ob Luna lebend davongekommen sei. Wiederum ohne Erfolg: Der Gesuchte fand sich nicht "unter den lebenden Skeletten", "es blieb nur noch der Schluß übrig, daß er, in der allgemeinen Verwirrung der letzten Kriegswochen, verhungert war oder ermordet worden sein mochte, und daß man ihn, ohne ihn zu registrieren, verbrannt, beziehungsweise verscharrt hatte, unbekannt wo" (GL 59).

Alexander Jessiersky wurde also zum Mitschuldigen "aus Indolenz" (GL 38): "er sagte sich, daß er, wenngleich er persönlich nichts getan hatte, oder eben deshalb, alles versäumt habe, was wirklich zu tun gewesen wäre" (GL 39). Das, was in einem ästhetisierenden Weltbild unter Umständen als eine mehr oder weniger positive Eigenschaft hätte gelten können, insofern als sie ein distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit impliziert und dem Betroffenen es erlaubt, Inicht ganz im Gegenständlichen verfangen zu sein" (GL 26), wird hier, am Beispiel des Helden, als fragwürdig hingestellt. Indolenz ist tatsächlich bei Alexander Jessiersky kein Merkmal von Überlegenheit, sondern vielmehr eines Mangels, der sich aus der frühen Kindheit herleitet: "Man könnte sich fragen, wen denn der Knabe überhaupt liebte. Er liebte niemanden. Er war eines jener Kinder, die sehr bald zu merken haben, daß sie nur für sich allein da sind. Ohne Träumer zu sein, haben sie wenig oder kaum Beziehung zur Welt, wie sie ist - eher noch zu einer Welt, wie sie gewesen" (GL 23). Es ist, als ob Lernet-Holenia mit dem Fall Alexander Jessierskys vor einem Mißverständnis der ästhetisch-aristokratischen Haltung warnen wollte: Distanziertheit darf nicht auf Unverantwortlichkeit hinauslaufen.

Von dem Augenblick an, da Luna als "verschollen- gilt - das heißt unter den Lebenden nicht mehr zu finden ist, ohne jedoch offiziell zu den Toten zu zählen -, setzt das Phantastische ein. Der sich schuldig fühlende Alexander Jessiersky wird sich in der Nachkriegszeit den Nachstellungen des 'untoten' Luna ausgesetzt wähnen.

2

Um das Thema des Wiedergängers, die Idee, daß einer, der tot ist bzw. schon längst tot sein müßte, wieder zu leben beginnt, kreisen mehrere Romane A. Lernet-Holenias (vgl. Berg 1991, 175). In Mars im Widder kehrt die gestorbene Cuba am Ende (zumindest scheinbar) zurück; Der Graf von Saint-Germain gibt vor, im Laufe der Zeit in den verschiedensten Gestalten erschienen zu sein, Der Mann im Hut ist augenscheinlich eine Wiederverkörperung der mythischen Figur von Hagen usw.

Läßt sich der Roman des Revenants Luna auf das traditionnelle Modell einer Gespenstergeschiche zurückführen? Das Motiv erscheint hier in der Semantik, im Stoff vertraut - die Rache aus dem Jenseits ist Thema zahlloser Gespenstergeschichten -, doch in der Erzählweise eigenartig.

90% oder noch mehr aller Gespenstergeschichten - so stellt mit Recht H. R. Brittnacher fest - sind Ich-Erzählungen, und zwar schon einfach deshalb, weil die Ich-Erzählung Glaubwürdigkeit erpreßt, "der Königsweg phantastischer Beglaubigungsstrategien" ist. (Brittnacher 1994, 207) In Der Graf Luna wird nun in der Tat weitgehend personal erzählt - der Leser sieht sich auf die Perspektive, den Wahrnehmungshorizont und die Gedanken von Alexander Jessiersky angewiesen. Doch bleibt diese "innenperspektivische Erzählung" nicht unberührt von auktorialen Reflexionen, die keinen Zweifel darüber lassen, daß wir es hier, von vornherein, mit einem schuldhaften Verfolgungswahn zu tun haben. Einschübe wie "ohne sich der Unsinnigkeit solcher Gedanken bewußt zu werden..." (GL 118), Kommentare wie "auf den Gedanken, daß die ganze Geschichte auch unabhängig von Luna, daß sie zufällig passiert sein könnte, kam er nicht" (GL 127) begleiten in mehrfach abgewandelter Form die Erzählung. All diese Signale relativieren die emotional-subjektive Sichtweise der Romanfigur und lassen sie als fixe Idee erkennen. Von einer leserbezogenen "Unschlüssigkeit" im Sinne von T. Todorov, das heißt begrenzt auf eine Ambivalenz zwischen natürlicher und übematürlicher Auflösungsmöglichkeit der dargestellen Ereignisse, darf also hier kaum die Rede sein. Das Subjekt Alexander Jessiersky hat hier übrigens so viel Luzidität, um sich seiner Paranoia bewußt zu werden und sich selbst zu gestehen, daß Luna schließlich nur ein fürchterliches Abbild der eigenen Seele ist, daß das Gespenst des Wiedergängers nur als Phantasma existiert: Über all seinen Grübeleien über Lunas Genealogie "begannen dessen Vorfahren, je mehr er auf die Spur kam, mit seinen eigenen Vorfahren zu verschwimmen; nicht nur sie und die Zeiten, auch die Orte und Luna und er, Jessiersky, selbst, all dies fing in seinem Geiste an, ineinander überzugehen" (GL 85); dies alles "bestätigte Jessiersky in seinem geheimnisvollen Einssein mit seinem tödlichsten Feinde" (GL 89). Das Spekulieren über die Genealogie - eine Besessenheit Lernets, die sich in allen seinen Romanen wiederfindet, hier aber noch stärker präsent ist als anderswo - versteht sich als eine Imaginationsarbeit', wobei die Chronologie sich in Etymologie, in Mythologie aufhebt - Luna bedeutet schließlich einfach "der Mond", "die Schattenseite der Wirklichkeit".

Nicht nur die Erzählweise, sondern auch die Fabel selbst ironisiert den Revenant, den Wiedergänger. Es stellt sich nämlich heraus, daß jede vermeintliche Erscheinung des Gespenstes letzten Endes auf einer Täuschung beruht und ins Groteske mündet. Exemplarisch dafür sind die Kapitel 5 und 6, die das Schema der Gespenstergeschichte offenbar parodieren. Während Alexander Jessiersky eines Abends in seiner Bibliothek des Palais Strattmann saß, damit beschäftigt, "sich genealogisch mit Luna zu befassen" (GL 86), hörte er eine Art Herumtappen aus dem Dachgeschoß; er erhob sich, um das seltsame Geräusch abzustellen, aber kaum hatte er die Tür erreicht, als "das tappende Individuum" schon die Stufen hinuntergeeilt und aus dem Haustor hinausgetreten war; Alexander Jessiersky verhörte am folgenden Tag ergebnislos sein ganzes Hauspersonal über diesen seltsamen nächtlichen Besuch; einige Wochen später hörte er wiederum die Schritte, diesmal mit einem metallischen Geklirr, "als ob oben ein Geharnischter gehe. Es war aber auch ein Geharnischter, der da oben ging und weil er geharnischt war, konnte es nur Luna sein" (GL 118). Jessiersky wollte nach einer Waffe greifen und fand nichts Besseres als eine der Scheren, die auf dem Toilettentisch lagen. Er rannte seinem tödlichen Feind im Dunkeln nach, folgte ihm auf die Straßel holte ihn ein und stieß ihm die Schere ins Genick. Als er aber die Leiche herumdrehte, sah er, daß der Mensch, den er eben getötet hatte, gar nicht Luna war, sondern ein gewisser Baron Spinette, von dem es sich erweisen sollte, daß er der Liebhaber seiner Frau Elisabeth war, den sie ab und zu in einem der Fremdenzimmer des obersten Stockes empfing.

Auf einer ebenso tragikomischen Verwechslung basiert die nächste (und letzte) Erscheinung Lunas. Um nach dem Mord an Spinette zu verschwinden, zog sich Alexander Jessiersky mit seiner Familie auf sein Alpengut Zinkeneck zurück. Eines Tages erfuhr er von seinem Verwalter, daß Jagdgäste aus dem Nachbarrevier, weil dort kaum Wild mehr vorhanden war, auf das Gebiet von Zinkeneck herüberzukommen pflegten und daß einer von ihnen Graf Luna hieße. Jessiersky versah sich dann sofort mit Gewehr, Rucksack und Feldglas und ging ohne Begleitung in die einsame Gegend der Almfelder hinauf; nachdem er eine Zeitlang auf der Lauer gelegen hatte, entdeckte er schließlich eine Gruppe von drei Menschen, die sich aus der Nachbarjagd heranbewegte; in dem Glauben, Luna unter ihnen zu erkennen, schoß er auf sie; einer von den dreien stürzte nieder, während die zwei anderen die Flucht ergriffen; es stellte sich bald heraus, daß hier wiederum ein Irrtum seitens Jessierskys vorlag: Der Tote war ein einfacher Jäger aus dem Dorfe, namens Eisl, "Vater von fünf unmündigen Kindern" - und "auf dem Lande", notiert sarkastisch der Text, "haben Leute, die ums Leben kommen, grundsätzlich ihrer mindestens fünf" (GL 169); was nun den jagdgast betraf, der tatsächlich Luna hieß, so war er alles andere als der Todfeind Jessierskys, sondern vielmehr ein wirklicher Graf Luna aus dem in jedem Hofkalender vermerkten spanischen Hause (GL 170).

Nicht nur daß Alexander Jessiersky zweimal hintereinander sozusagen versehentlich den Falschen erschlug, am Ende beging er beim Versuch, den Folgen seiner früheren Übeltaten zu entgehen, sogar noch einen dritten Mord, und zwar an einem Kommissär Achtner, der im Begriffe war, ihm den Mord an dem Baron Spinette und an dem Jäger Eisl nachzuweisen.

Aus der Gespenstergeschichte wird also ein Kriminalroman. Nach der geläufigen Einteilung der Kriminalliteratur in drei Erzählarten - "detective-story", "thriller" und "suspense" (je nachdem, ob die Erzählung auf die Figur des Detektivs, des Verbrechers oder des Opfers fokalisiert wird) - hätten wir es hier zunächst mit einern humoristischem Gemisch von "thriller" und "suspense" zu tun: Das vermeintliche Opfer wird zum reellen Mörder, um die vermeintliche Gefahr, die es tatsächlich zu laufen glaubt, zu bannen. Im ersten und im vorletzten Kapitel des Romans, welche die innenperspektivische Geschichte Jessierskys umklammern, wird dann der Standpunkt des Detektivs eingenommen, und zwar durch die Gestalt eines gewissen Dr. Julius Gambs, aus der Abteilung 2 des österreichischen Innenministeriums, der zuerst in Wien und dann in Rom die polizeiliche Untersuchung über das Verschwinden von Alexander Jessiersky führt - nicht ohne daß selbst diese Figur eines zwar sehr gewissenhaften, aber vorwiegend an erotischer Literatur interessierten Beamten lächerlich gemacht wird. Alle Varianten der Kriminalliteratur werden also in Der Graf Luna in ironischer Brechung ausgebeutet. Die Kriminalliteratur bildet sozusagen die Kehrseite, die triviale Realität, den ironischen Rest einer unwahrscheinlichen Gespenstergeschichte. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang an andere Romane Lernet-Holenias, wie Ich war Jack Mortimer (1933) oder Beide Sizilien (1942).

Bedeutet das aber, daß die Phantastik damit endgültig desavouiert wäre? Wir glauben es nicht. Nur ist das Moment der Verunsicherung in dieser WiedergängerGeschichte als unabhängig von einem ambivalenten Existenzmodus des Wiedergängers selbst aufzufassen.

3

Es sei zunächst vermerkt, daß die Tatsache, daß Luna realiter schon längst gestorben ist und nur als Phantasma im Verfolgungswahn der Hauptfigur lebt, ihm keineswegs seine Bedrohlichkeit raubt.

Alexander Jessiersky wird zum Mörder, um der eingebildeten Verfolgung durch Luna zu entgehen; damit wird er aber erst recht zum wirklich Verfolgten, und zwar durch die polizeiliche Behörde. Die Frage nach dem Existenzmodus von Luna - ob Phantasma, ob Realität - ist dann insofern überflüssig, als die von ihm inkarnierte Drohung sowieso Wirklichkeit geworden ist: "er hatte das bestimmte Gefühl, nicht die Polizei, sondern Luna sei ihm auf den Fersen" (GL 186). Dies erinnert an das Paradox des Mordes, den Philipp Branis in Der Graf von Saint-Germain an Karl des Esseintes begeht: Das bedrohliche Potential der Vergangenheit - hier unter der Form einer Prophezeiung des mythischen Grafen von Saint-Germain - wird dadurch nicht vermindert und entkräftet, sondern erst recht erfüllt und aktiviert. Der Mord erscheint in beiden Fällen als ein kläglich scheiternder Versuch, doch noch der Last der Vergangenheit zu entkommen und die eigene Souveränität zu beweisen.

Das letzte Kapitel des Romans wirft übrigens ein neues Licht auf die Absurditäten der Handlungen Jessierskys, "die Unregelmäßigkeiten seines Charakters" (GL 17). Es spielt in den Katakomben Roms und liefert zunächst einmal den Epilog zu der kriminellen Intrige. Alexander Jessiersky, der nun von der Polizei tatsächlich verfolgt wird, hofft dort seine Spur verwischen zu können; geplant hat er, daß man ihn offiziell für tot hält, was ihm ermöglichte, dann unter einem falschen Namen nach Südamerika zu fliehen. Aber gerade das, was er nur hat vortäuschen wollen, wird Tatsache: Alexander Jessiersky verliert sich in seiner Irrfahrt durch die Unterwelt und wird niemals mehr zurück ins Freie gelangen, wieder ans Licht kornmen. Auktorial werden nun "die letzten Stationen seines Weges" erzählt, wie er im Delirium ins Reich der Toten hinüberdämmert. Kurz vor seinem Sterben wird ihm eine Vision geliehen, die einen Bogen zum Anfang des Romans spannt, zum zweiten Kapitel, das von Jessierskys Vorfahren, von dessen einsamer Knabenzeit und konfliktgeladenem Verhältnis zum Vater spricht. Obwohl dieses ganze, aus Kleinrußland gebürtige Geschlecht von "Mitgiftjägern" ihm immer als anrüchig erschien, blieben die Gefühle des Knaben seiner Familie gegenüber zweideutig. Einerseits hatte er zwar den Eindruck, "daß er nicht zu diesen Vorfahren gehörte" (GL 29), und seinen eigenen Vater fand er sogar "auf entschiedene Weise ekelhaft" (GL 22); andererseits stimmte ihn das aber traurig: "Er mochte sich hundertmal sagen, daß sie zweifelhaft, ja daß sie ausgesprochen verdächtig gewesen waren - ihre Zweifelhaftigkeiten, ihre Unanständigkeiten wogen seine Enttäuschung, seinen Schmerz über den Umstand nicht auf, daß sie ihn, wie er zu wissen glaubte, ablehnten" (GL 29). Beim Tode seines Vaters malte sich der Knabe "ein phantastisches Polen" aus, in welchem sich die Jessierskys wie in einer Art von jenseits aufhielten und aus dem der Todesschlitten gekommen war, um den Sterbenden zu holen - einem jenseits, zu dem er leider, so glaubte er, selber keinen Zutritt haben sollte. Nun, kurz vor seinem eigenen Tode in den Katakomben Roms, erlebt Alexander Jessiersky in einer Art halluzinierter Vision, wie er selbst gleichfalls von einem Schlitten abgeholt wird, alle seine Vorfahren und seinen verstorbenen Vater auf dessen einstigem Gut in Polen wiedertrifft, die ihn versöhnend empfangen und ihm beteuern, daß er sich diesem "Jessierskyschen Himmel" durch "seine Geschichten mit Spinette und Eisl und Achtner" - durch sein kriminelles Handeln also -, zu guter Letzt noch verdient gemacht hat, "wenngleich er ursprünglich gar nicht daran gedacht hatte" (GL 225).

Welche Lehre soll man aus dieser vom Dichter selbst als "rückständig" zugegebenen Vorstellung des Todes ziehen? Welchen Weg man auch einschlägt, das Leben kommt einer Fatalität gleich. Alles ist geheimnisvoll prädestiniert und schon "gegeben", ohne daß man sich dessen bewußt wird. Nun darf man das nicht mit Determinismus verwechseln: Alexander Jessiersky ist nicht deshalb zum Kriminellen geworden, weil seine Vorfahren schon verdächtig waren, weil er also irgendwie erblich belastet wäre. Mit Naturalismus hat das Holeniasche Weltbild bei weitem nichts zu tun! Bestimmend ist nicht die Genealogie an sich, sondern das Bild, das man sich aus ihr macht, eine Art Heraldik also, die man sich selber erbaut. All das, was Alexander Jessiersky in seinem Leben begangen hat, seine ganze Pseudo-Wiedergänger-Geschichte mit Luna, war im Rückblick nur eine Weise für ihn, auf unbewußtem Um- und Irrwege dieser seiner eigenen Heraldik zu "entsprechen".

Die Verwandtschaft Lernet-Holenias mit seinem Freund Leo Perutz liegt hier auf der Hand. Auch die Romane von Perutz schöpfen aus dem klassischem Motivinventar der Phantastik, das sie dann zugunsten der Inszenierung einer schuldhaften privaten Fatalität abwandeln, sei es im Falle von Grumbach in Die dritte Kugel, Yosch in Der Meister des jüngsten Tages, Demba in Zwischen neun und neun oder auch Jochberg in St. Petri-Schnee. Bei den beiden Autoren geht nun dieser von dem bedrohlichen Potential der Vergangenheit herrührende Fatalismus, der selbstverständlich jeweils eigenartiger Färbung ist - Stephan Berg weist hier mit Recht darauf hin, daß "das Ich in Perutz' Texten, grob gesagt, an einem Zuwenig an Erinnerung leidet, das Ich bei Lernet-Holenia an einem Zuviel" (Berg 1991, 199) -, mit Geschichtspessimismus einher. Vor diesem Hintergrund wird aber dem Individuum nicht genau derselbe Entscheidungsraum zugestanden. Bei Perutz wird dem Helden praktisch jede Bewegungsfreiheit abgesprochen: Die komplexe, eingeschachtelte narrative Struktur des Romans Zwischen neun und neun etwa veranschaulicht - so Hans Harald Müller - die Idee, daß, wenn dem Helden sozusagen ein zweites Leben gegeben worden wäre, dieses genauso wie das erste verlaufen würde (Müller 1993, 78-93). Bei A. Lernet-Holenia dagegen wird schon mit Der Graf von Saint-Germain aber insbesondere mit Der Graf Luna klar, daß das Ausgeliefertsein des Individuums an eine private Fatalität eine gewisse Verantwortung vor der Geschichte nicht aussschließt. Wenn es auch nur als ein Moment in der Realisierung seiner 'Heraldik' erscheint, ist Jessierskys Reue wegen seiner Indolenz dem Faschismus gegenüber nicht politisch indifferent. "Zwar gibt es Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen, wer wollte das bestreiten [...] [aber] schließlich mag es, wenn nicht geradezüi Glück oder Unglück, so doch Schicksal sein, ob wir das Verbotene tun oder das Erlaubte. Wir wären nicht aufrichtig gegen uns selbst, gäben wir das nicht zu. Aber daß wir für das, was wir tun, nicht, oder nicht ganz, verantwortlich sind, verhindert dennoch nicht, daß wir dafür zur Verantwortung gezogen werden" (Die Inseln unter dem Winde, 1952).

Die hier skizzierten Überlegungen zu Lernet-Holenias Roman Der Graf Luna dürfen sich als eine Glosse (unter anderen) zum phantastischen Erzählen in Österreich nach 1945 verstehen. Lernet-Holenia ist unseres Erachtens kein bloßer Epigone der sogenannten "phantastischen Literatur der frühen Moderne", deren Welle im Fin de siécle anhebt und bis in die Jahre um 1930 andauert. Seine Einzigartigkeit diesen Vorgängern gegenüber beruht darauf, daß die Phantastik bei ihm nicht mehr unmittelbar mit der Problematik (und den Effekten) des Übernatürlichen gekoppelt ist. Er fällt aber nicht deshalb dem Parodistischen z. B. eines H.C. Artmann anheim, der mit den Klischees, den Resten einer trivialisierten Phantastik nur spielt. Die phantastischen Motive bringen bei ihm noch ihren Eigenwert mit. Doch deren distanzierte erzähltechnische Gestaltung läßt erkennen, daß die wahre Verunsicherung in der Einbindung des einzelnen in versteckte, nur erahnbare Zusammenhänge und im rätselhaften Gang der Welt gründet, wie sie das Incipit von Mars im Widder im Bezug auf einen anderen Zeitpunkt beschreibt: "Zu Anfang des Sommers 1939 entschloß sich die Hauptperson - um nicht zu sagen: der Held - dieses Berichtes [...] eine soldatische Übung, zu der er verpflichtet war, mit dem 15. August zu beginnen. Er hätte aber schwerlich angeben können, warum er diesen und nicht irgendeinen anderen Zeitpunkt gewählt hatte [...]" Eine Erzählstrategie, welche dem Interesse des heutigen lateinamerikanischen "magischen Realismus" etwa eines Gabriel Garcia Märquez begegnet und bestätigt, daß moderne Phantastik, wie es Clemens Ruthner schreibt, "das Andere nicht mehr im jenseits sucht, sondern im Diesseits eines labyrinthischen Bewußtseinstromes und seiner Traumlogik" (Ruthner 1993, 184).

Literatur

  • Lernet-Holenia, Alexander: Der Graf Luna. Zitiert als GL nach der Ausgabe: Wien und Hamburg: Paul Zsolnay 1981.
  • Berg, Stephan: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1991.
  • Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.
  • Müller, Hans-Harald: Structure narrative et interpritation du roman 'Le Tour du cadran'. In: Pollet, Jean-Jacques (Hrsg.): Leo Perutz ou Vironie de l'Histoire. Rouen: PUR 1993, S, 78-93.
  • Ruthner, Clemens: Wort-Magie. Glossen zum 'phantastischen' Erzählen in Österreich nach 1945 (H.C. Artmann, Th. Bernhard). In: Auckenthaler, Karlheinz (Hrsg.): Die Zeit und die Schrift. Österreichische Literatur nach 1945. Szeged: University Press 1993 (Acta Germanica 4), S. 175-185.