Wir verwenden Cookies für dein individuelles Surf-Erlebnis, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf unsere Website zu analysieren. Außerdem geben wir Informationen zu Ihrer Verwendung unserer Website an unsere Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter. Unsere Partner führen diese Informationen möglicherweise mit weiteren Daten zusammen, die Sie ihnen bereitgestellt haben oder die sie im Rahmen Ihrer Nutzung der Dienste gesammelt haben. (inkl. US-Anbietern)
Für Datenschutz verantwortlich
Alexander Lernet-Holenia
Suche
NEWS
Bio
Werk
Forschung
Leseproben & Rezensionen
Media
Internationale Gesellschaft
Suche

Alexander Lernet-Holenia: Anmerkungen zur Rezeption und Poetik seines Werks

Dr. Gerald Funk

In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 128(4), Stuttgart u.a.: Metzler, 2002

Jener Monokel tragende Herr mit zeitweiligem Wohnsitz in der Wiener Hofburg, der aus Empörung über die Verleihung des Literaturnobelpreises 1972 an Heinrich Böll als Präsident des österreichischen PEN-Clubs zurückgetreten ist, hat zeit seines Lebens wie kaum ein anderer Autor seiner Generation – mit Ausnahme Ernst Jüngers – zu den kontroversesten Stellungnahmen herausgefordert. Sein erzählerisches Werk gilt den einen als Meisterleistung und Höhepunkt der deutschsprachigen phantastischen Literatur,1 die anderen halten schon allein das Genre der Phantastik für unseriös und sind bemüht, den Autor vor einer solchen Kategorisierung in Schutz zu nehmen;2 einige, wie etwa Hilde Spiel, loben ihn als »Erzähler höchsten Ranges«3 und zählen einzelne seiner Romane und Novellen, wie den Baron Bagge (1936), Mars im Widder (1941/47) oder Beide Sizilien (1942), zum Besten, was seinerzeit geschrieben wurde, andere schlagen sie zur Kolportage und Unterhaltungsliteratur4, wieder andere gehen gar soweit, sie in die Nähe der Trivialität zu rücken5; Horst Lange kritisiert 1944 in einer Tagebuchnotiz die »sehr billigen, fast kindhaften Effekte«,6 die Lernet in seinen erzählerischen Arbeiten verwendet, wogegen Gottfried Benn gerade das »Schlenkriche, Unseriöse, vielfach Spielerische« als etwas »Undeutsches« besonders goutiert.7

Um die Bewertung seiner Lyrik steht es nicht anders. Einige schätzen sie mehr als seine Prosa – so wurde sie vor einer Neuedition der Romane von Roman Roček 1989 gesammelt herausgegeben8 – und empfehlen sie, wie Rainer Maria Rilke, euphorisch weiter.9 Manche halten sie gar, wie Friedrich Torberg, für sein »dichterisch Eigentümlichste[s]«10 und für »turmhoch« seinen anderen Werken überlegen.11 Andere dagegen – zu ihnen zählt Robert Neumann – verulken dieselbe,12 bezeichnen den Verfasser als »eine Art Sterilke«13 oder wundern sich, wie Hans Erich Nossack anlässlich des Erscheinens von Lernets Langgedicht Germanien (1946), über die unzeitgemäße Form.14 Wieder andere erklären seine Verse schlicht für epigonal.15

Ähnliches gilt für seine dramatische Produktion. Man kann sie in die Nähe des gepflegten Boulevardtheaters rücken,15 kann seine Stücke aber auch ernst nehmen – immerhin erhielt er 1926 für drei seiner Dramen (Demetrius, Österreichische Komödie und Ollapotrida) zwei Drittel des renommierten Kleist-Preises – und sie als Nachklang ästhetizistischer Dramatik interpretieren,17 oder aber man charakterisiert den Autor gar, wie Stefan Zweig, als den »Nobelsten unserer dramatischen Dichter«.18 Offenbar besteht keine – für den deutschen Sprachraum so wichtige – Einmütigkeit der Kritik und der Literaturwissenschaft darüber, ob Lernet-Holenia denn letztlich ein Filou, ein Bruder Leichtfuß oder ein seriöser Schriftsteller und Poet gewesen ist.

Nun hat Oscar Wilde einmal den Satz geprägt: »Wenn die Kritiker sich streiten, ist der Künstler im Recht.«19 Das gilt möglicherweise nicht nur für den englischen Dandy und Provokateur der viktorianischen Gesellschaft, der als Dichter anerkannt sein wollte, dessen ›schwere‹ Dichtung, wie die Tragödien und Gedichte, allerdings immer umstritten blieben, wogegen seine ›leichte‹ Produktion, wie der Dorian Gray, die Märchen und Gesellschaftskomödien, sich durchgesetzt haben und zum weltliterarischen Kanon gehören. Auch Lernet-Holenia unterlag in dieser Hinsicht vermutlich einer Fehleinschätzung. Seine an Rilke geschulte und ausgesprochen manierierte Lyrik ist nicht so gut, wie er persönlich glaubte, und viele seiner Romane, Erzählungen und Dramen sind nicht so schlecht, wie er ihnen immer wieder unterstellte.

Auch wenn seine nach einer Reihe immerhin erfolgreicher Publikationen aufgestellte Behauptung, er habe »noch nie ein wirkliches Buch geschrieben«,20 tatsächlich, wie zu Recht vermerkt wurde, nach »Koketterie und fishing for compliments«21 riecht, so hat er im wesentlichen seine Prosaschriftstellerei – bis auf den Roman Beide Sizilien –, aber auch seine Komödien und Dramen nicht besonders hoch geschätzt und öffentlich ungeniert zugegeben, sie »bloß aus Gründen wirtschaftlicher Notwendigkeit«22 verfasst zu haben. So berichtet Lernets Biograf Roman Roček, der Autor habe ihm wiederholt gestanden, »daß ein Großteil seiner Arbeiten vollkommener Unsinn sei, überflüssig, in den Wind gesprochen«, und er fährt fort: »Manchmal hält er neun Zehntel seines Werks für mißlungen, manchmal drei Viertel, gelegentlich auch nur zwei Drittel. Die Prozentsätze variieren je nach Laune und Gesprächspartner.«23

Mit solchen Äußerungen hat Lernet-Holenia schließlich das seine dazu beigetragen, dass ihm die hohen Ehren der Dichtung auch von anderer, literaturkritischer Seite nur zu selten zugesprochen wurden. Sein Werk ist und bleibt so umstritten, dass selbst auf einer wissenschaftlichen Tagung anlässlich seines hundertsten Geburtstags den Referenten, so eine Beobachterin, das »schlechte Gewissen bei der Befassung mit gut gemachter Literatur« noch anzumerken gewesen sei.24 So ist es kein Wunder, dass von einer wissenschaftlichen Rezeption auf breiterer Basis erst in allerjüngster Zeit die Rede sein kann.25 Selbst in der Forschungsliteratur zum Thema ›Innere Emigration‹ taucht das Werk Lernet-Holenias erst seit kurzem auf und wird damit erst jetzt in den Kanon der ›seriösen‹ Literatur einbezogen.26 Sein Name fehlte lange Jahre in allen einschlägigen Publikationen zum Thema. Allenfalls im Rahmen genretheoretischer Auseinandersetzung mit der phantastischen Literatur wurde sein Werk zur Kenntnis genommen27 und er selbst in der österreichischen Binnenliteraturgeschichtsschreibung als zwar bescheidener, aber legitimer Enkel Hofmannsthals und Nachfahre all jener Melancholiker des untergegangenen »Kakanien«, wie Robert Musil und Joseph Roth, gehandelt.

Hinzu kommt, dass er sich auch als Mensch nicht nur Freunde gemacht hat. Die Charakterisierungen seiner Person fallen recht zwiespältig aus. Für die einen ist er der provokationslüsterne Aristokrat,28 der Grandseigneur unter den Dichtern seiner Generation,29 für andere eine vielschichtige Figur,30ein schwieriger oder vornehmer Herr,31 ein Reaktionär,32 Salonlöwe oder schlicht – um einen besonders schönen österreichischen Ausdruck Daniela Strigls zu verwenden – ein »Zornbinkel«,33 der es sich in späteren Jahren mit so gut wie jedem verdorben hat.

Vor allem aber seine Rolle in den Jahren des Dritten Reiches ist nicht eindeutig zu beschreiben. Dass er keine großen Sympathien für den Nationalsozialismus hegte, dessen Rassenwahn, Vermassung und Barbarisierung, dessen kulturelle Verrohung und Herdenhaftigkeit er ablehnte und zutiefst –
nicht zuletzt aus einer aristokratischen Attitüde heraus – verachtete, das machen einige seiner Bücher im Nachhinein sehr deutlich. Vor allem die Romane Der Graf von Saint-Germain (1948) und Der Graf Luna (1955) sowie das Gedicht Germanien (1946), welches ähnlich wie das Dies irae (1945) Werner Bergengruens flammend Feigheit und Schande, Blut und Gericht beschwört, sind hier zu nennen.

Allerdings war Lernet-Holenia Opportunist genug, um sich mit dem System, das er nach dem Krieg so wortgewaltig verurteilt, auf der Höhe von dessen Macht zu arrangieren und seine Verachtung in der Zeit tatsächlicher Gefahr nicht allzu deutlich werden zu lassen. Dass er, nachdem er am zweiten Tag des Polenfeldzuges verwundet worden war, nach Berlin beordert und später im Sommer 1941 zum Chefdramaturgen der Heeresfilmstelle ernannt wurde, ist ein Indiz für seine Fähigkeit zur Mimikry. Andererseits aber waren die offiziellen Überwachungsorgane sich seiner Loyalität nie wirklich sicher, was immerhin so weit ging, dass die Gauleitung der NSDAP Wien 1940 eine politische Beurteilung von der Gauleitung Oberdonau einholte, in der es heißt:

Lernet-Holenia war während der Systemzeit dauernd in Gesellschaft von Jüdinnen zu sehen. Im politischen Leben ist er nie hervorgetreten und kann ihm daher in dieser Hinsicht nichts nachgewiesen werden […]. Der Angefragte bemüht sich zwar heute ersichtlich, den Anforderungen des neuen Reiches gerecht zu werden, doch ist seine innere Einstellung zur NSDAP keineswegs positiv. In moralischer Hinsicht genießt er keinen guten Ruf.34

Man hält ihn wie den in seinem Schauspiel Glastüren (1939) gezeichneten Typus des ›Österreichers‹ mit den Worten des Völkischen Beobachters für einen »genußsüchtigen Nichtstuer«, »träumenden Traumichnicht« und »witzigen Hohlkopf«.35

Mit wieviel Zynismus und distanzierter Ironie Lernet tatsächlich dem politischen Geschehen zugesehen hat, darüber gibt ein Abschnitt aus Carl Zuckmayers Autobiografie Als wär’s ein Stück von mir (1966) Auskunft. Wenige Tage nach dem ›Anschluss‹ Österreichs und kurz bevor viele der Freunde in die Emigration gingen, traf man sich im März 1938 noch einmal im Hause Zuckmayer, um über die Lage zu beraten und die geplanten Fluchtrouten auszutauschen. Auch Lernet-Holenia, der sich, wie Zuckmayer schreibt, den Freunden »zugehörig fühlte«,36 ohne selbst direkt bedroht zu sein, war an jenem Abend anwesend. Zuckmayer erklärt:

Für Lernet-Holenia blieb gar nichts anderes übrig, als hier zu bleiben, aber er betrauerte schmerzlich nicht nur den Verlust seiner liebsten Freunde und den schmählichen Untergang seines Landes, sondern auch die bevorstehende Abwanderung der jüdischen Frauen und Mädchen, die er für die einzig begehrenswerten hielt. Er mußte umlernen.37

Es gehört allerdings schon ein gewisses Understatement, ein Habitus aristokratischer Arroganz dazu, in dem Augenblick, in dem die Freunde unter Bedrohung von Leib und Leben auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft waren, vom bedauerlichen Verlust der attraktiven jüdischen Frauen und Mädchen zu sprechen.

Wenig beeindruckt zeigt er sich indes nicht nur von dem ›allgemeinen‹ Schicksal österreichischer Juden, sondern allem Anschein nach auch vom Schicksal naher jüdischer Freunde. So beschwert sich etwa Leo Perutz, den eine langjährige Freundschaft mit Lernet-Holenia verband – man hatte am Wolfgangsee viele sommerliche Tage zusammen verbracht –, noch im April 1947 aus Tel Aviv dem gemeinsamen Freund Hugo Lifczis gegenüber: »Unser Lernet, der bis zu Hitlers Einmarsch zweimal wöchentlich sich bei mir mit mir ›zusammenrottete‹, ließ seit dem 12. März 38 nichts mehr von sich hören, ja nicht einmal einen Telefonanruf bei mir hat er riskiert. Es interessierte ihn überhaupt nicht, ob und wie ich den Nazis entkäme.«38 Ob Perutz hier Recht hat, ob dem tatsächlich so war und welche Ursachen diese Zurückhaltung möglicherweise gehabt haben könnte, lässt sich – bevor der Briefwechsel publiziert ist und andere, private Unterlagen zugänglich sind – abschließend wohl nicht klären. Da jedoch der Kontakt zwischen beiden Schriftstellern Anfang der fünfziger Jahre erneut aufgenommen wurde und man sich in St. Wolfgang im Sommer wieder traf, war offensichtlich kein Groll von Seiten Perutz’ zurückgeblieben. Aus welchen Gründen auch immer.

Dies alles sind nur kleine Hinweise auf die Widersprüche in Leben und Werk Alexander Lernet-Holenias. Sie sind unübersehbar. Möglicherweise bilden sie sogar gegenwärtig wieder einen Teil der Faszination, die von seinen Arbeiten ausgeht und seine Person auch heute noch in der Diskussion hält. Die Neuausgaben vor allem seiner im Dritten Reich erschienenen Romane und Erzählungen, die gegenwärtig bei Zsolnay und neuerdings auch als Taschenbücher im Insel Verlag erscheinen, sind ein Indiz für die Präsenz des Autors. Ob und, wenn ja, wie diese Widersprüche aufzulösen sein könnten und wie sie sich in der Poetik seiner Arbeiten spiegeln, wird immer eine der zentralen Fragen sein, die in der Auseinandersetzung mit seinem Werk gestellt und, falls möglich, auch beantwortet werden sollte.

Am eindringlichsten stellt sie sich in den Arbeiten, die zwischen 1933 und 1945 entstanden sind: von der Standarte (1934) über den Baron Bagge (1936), den Mann im Hut (1937) und Ein Traum in Rot (1939) bis Mars im Widder (1941) und Beide Sizilien (1942). Hier hat seine Poetik ihren intensivsten Ausdruck gefunden, weil unter dem Druck der Verhältnisse nicht nur individuelle Widersprüche sichtbar werden, sondern diese zugleich zu Symptomen einer zeitspezifischen literarischen Strategie werden, die bislang nur unzureichend unter dem Stichwort der ›Inneren Emigration‹ verhandelt wurde. Dabei kommt Lernet-Holenia, mehr als anderen, jüngeren Autoren wie Horst Lange, Friedo Lampe oder Eugen Gottlob Winkler, schon aufgrund seiner Publizität und Produktivität eine besondere Bedeutung zu.

Ein Zeit- und Generationsgenosse Lernets hat schon sehr früh auf diese Bedeutung hingewiesen: der Verleger Peter Suhrkamp, in dessen seit 1936 von S. Fischer kommissarisch übernommenem Verlag fast ausschließlich alle wichtigen Bücher Lernets im Dritten Reich erschienen sind. In einem – bislang unbekannten – Brief vom 12.10.1943 schreibt Peter Suhrkamp an einen seiner jungen Autoren, der sich gerade um sein erzählerisches Debüt bemühte, über Lernet-Holenia folgende Sätze:

Was Sie über Beide Sizilien […] schreiben, deckt sich ganz und gar mit meinem Eindruck von diesem Buch. Auch ich schätze das Silverstolpe-Kapitel am meisten. Ich halte aber Lernet-Holenia überhaupt für einen ganz ungewöhnlichen Geist und Schriftsteller. Es gibt bei ihm Dinge, die keiner sonst heute kann. Und das Schöne daran ist, dass sie ihm unangestrengt gelingen. Gewiss muss man dafür einige Schwächen hinnehmen.39

Worauf sich Suhrkamp hier allerdings konkret bezieht, welches die Dinge sind, »die keiner sonst […] kann«, lässt sich nicht unmittelbar rekonstruieren, da der Brief, auf den er sich in seinem Schreiben bezieht, in den Kriegs- und Nachkriegswirren verloren ging. Er entstammt der Feder Heinrich Schirmbecks, den Suhrkamp damals betreute und der in jenen Jahren an einem Band »phantastischer Geschichten«40 arbeitete. Was Schirmbeck in den vierziger Jahren seinem Verleger gegenüber äußerte und was diesen »ganz und gar« überzeugte, lässt sich heute allerdings mittelbar der Besprechung zweier Bücher Lernets entnehmen, die erst jüngst veröffentlicht worden ist.41 Zwar bezieht sich die Rezension Schirmbecks auf zwei Bände aus den fünfziger Jahren, den Roman Die Inseln unter dem Winde von 1952 und den Erzählband Die Wege der Welt aus demselben Jahr, aber sie gibt zugleich eine allgemeine Charakteristik des Autors und erwähnt ausdrücklich die Lektüre von Beide Sizilien. Schirmbeck bezeichnet den Roman als »brillantestes Beispiel« von Lernets Fähigkeit der »Schattenbeschwörung«. Er schreibt:

Mit disziplinierter Kunst versteht es Lernet-Holenia, im Leser eine aus Schauder, Dämonie und Spannung gemischte Atmosphäre zu erzeugen. […] Die eigentümliche Mischung aus zuchtvoller Form, gepflegtem metaphysischem Dilettantismus und beinahe verlegener Kolportage scheint das Rezept fast aller Romane Lernet-Holenias zu bilden. Beide Sizilien, Ein Traum in Rot und die geheimnisvolle Liebesgeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg, Mars im Widder, sind beachtliche Beispiele dafür.«42

Also die Vereinigung von hintergründiger Metaphysik und vordergründiger Spannung war vermutlich das Spezifikum in Lernet-Holenias Werken, das Schirmbeck schon 1943 in seinem Brief an Peter Suhrkamp hervorgehoben und das der Verleger als »ungewöhnlich« bezeichnet hatte. Und eine solche »Mischung« oder besser: Überlagerung ist denn auch tatsächlich das Geheimnis der besten erzählerischen Arbeiten Lernet-Holenias, die – außer einem kleinen ›Nachklang‹ in Form des Grafen von Saint-Germain und des Grafen Luna – allesamt in den Jahren des Dritten Reiches entstanden und, bis auf eine Ausnahme,43 auch erschienen sind. In ihnen wird, wie es Schirmbeck ganz zutreffend beschreibt, das Gefühl geweckt, »der Entschleierung eines größeren kosmischen Geheimnisses beizuwohnen«,44 zugleich aber werden eindeutige Antworten vermieden und das ›Geheimnis‹ wird wieder hinter einem bunt ausgesponnenen Netz literarischer Effekte verborgen. Inhaltlich manifestiert sich diese ästhetische Täuschung in dem von Lernet-Holenia häufig verwendeten Motiv des Doppelgängers, wo sich die scharfen Grenzen des Ich verwischen, oder in dem der germanischen Mythologie entstammen den Motiv des Helwegs, der zwischen Tod und Leben liegt und durch den die Gestorbenen wandern müssen, bevor sie ins Totenreich eintreten können.45 Auch das unscharfe Verhältnis von Traum und Wirklichkeit gehört in diesen Zusammenhang. Immer wird hinter den oberflächlichen Motiven aus der Tradition der phantastischen Literatur und der ›schwarzen Romantik‹ eine Bedeutung suggeriert, die in metaphysische Höhen weist.

Ästhetisch verdeutlicht sich diese Obsession in einzelnen Szenen, in denen, wie etwa in Beide Sizilien oder Mars im Widder, gegenwärtiges Geschehen transparent wird und den Blick auf gemeinhin Unsichtbares freigibt – so, als beleuchte man die auf dünne Gazeflächen aufgetragene Kulissenmalerei des Theaters nicht von vorne, sondern sehe im indirekten Licht des Bühnenhintergrundes ein Geschehen, das bislang verborgen war. So kann der genius loci einer unscheinbaren, aber vor Jahrtausenden als Kultstätte gebrauchten Bodensenke ein Bild der nackten heidnischen Tänzer heraufbeschwören,46 oder hinter den sanft geschwungenen Grünflächen und den Baumgruppen einer idyllischen Hügellandschaft werden plötzlich, erst schemenhaft, dann deutlicher, Heerscharen von Soldaten aller Zeiten sichtbar, die umherirren und ihre unter der Oberfläche verborgenen Gräber suchen, in denen man ihre toten Leiber bestattet hat bzw. bestatten wird:

Die Luft, wenngleich der Himmel bedeckt schien, war von außerordentlicher Klarheit. Der Oberst meinte, nicht allein zu sein, es war auch noch eine Menge anderer Menschen hier herausgekommen, doch nicht einzeln, sondern in Gruppen oder Trupps, in der Weite jedoch ziemlich verloren […]; die Trupps schienen im Begriff, die Landschaft zu vermessen. Auch die suchende Art, auf die sie sich weiterbewegten, deutete darauf hin. Aber plötzlich sah der Oberst, daß es Waffen seien, die sie trugen. Es waren Waffen, und die Leute hatten sich, offenbar, auch nicht willkürlich zusammengefunden, sondern es waren einzelne Fahnen, um die sie sich geschart. […] Mit den Spitzen der Klingen und Spieße, doch auch mit den Gewehrmündungen suchten sie auf dem Boden hin und her. […] Der Oberst blickte von einer Gruppe zur andern, und unter seinen Blicken weitete sich rasch die ganze Landschaft, er sah viel weiter, als sonst ein Auge wirklich reicht, das ganze Land war voll schattenhafter Trupps […]. Die Welt war voll von Menschen, die ihre Gräber suchten.47