Alexander Lernet-Holenia - ,,Wirkliches Dichten" oder ,,schlicht Schreiben" ?
Mag. Dr. Manfred Müller
In: Personalbibliographie Alexander Lernet-Holenia, Hgg. Hélèn Barriére, Thomas Eicher, Manfred Müller, Verlag: Athena, Oberhausen, 2001

Es ist nicht einfach, eine allgemeine Einführung in das Lebenswerk Alexander Lernet-Holenias zu geben, denn beide Bereiche - Leben und Werk - weisen so viele unterschiedliche Facetten auf, daß es unmöglich erscheint, den berühmten ,,einen Hut" zu finden, unter den man sie bringen könnte.
1.
Alexander Lernet-Holenia war ein sehr undurchsichtiger Mensch. Er verstand es, seine Freunde beziehungsweise diejenigen, die sich dafür hielten, durch Entscheidungen vor den Kopf zu stoßen, die er ohne Rücksicht auf seine Umgebung spontan oder zumindest vermeintlich spontan beschlossen hatte. Als Beispiele dafür seien die Rückerstattung des Kleist-Preises im Jahre 1930, sein privater und literarischer Feldzug gegen die österreichischen Finanzbehörden Mitte der fünfziger Jahre oder sein Rücktritt als Präsident des österreichischen P.E.N.-Clubs im Jahre 1972 erwähnt. In all diesen Fällen reagierte seine Umgebung fassungslos, während er selbst keinerlei Kritik an seiner Vorgehensweise gelten ließ und sie als einzig mögliche erachtete. Er folgte in seinem Verhalten, das von vielen Beobachtern bestenfalls als Schrulligkeit abgetan wurde, einem Ehrbegriff, den er bedingungslos vertrat. Dieser wurde zu einer Art ‚Trademark‘, die ihn in den Augen der Öffentlichkeit zu dem machte, als der er schließlich eine gewisse berüchtigte Berühmtheit erlangte.
Auch sein Werk ist nicht exakt überschaubar, zum einen wegen der ungeheuren Menge an Texten, zum anderen, weil Lernet-Holenia selbst sich nicht die Mühe gemacht hat, zu vermerken, welche Texte von ihm wann geschrieben worden waren. Diverse Adjutanten, die sich dieser Aufgabe annahmen, arbeiteten meist ungenau, auch, weil die relativ große Anzahl an Verlagen, bei denen Lernet publiziert, eine kontinuierliche Betreuung seines Werkes unmöglich macht oder einfach, weil er selbst kaum mithalf und im Falle von Nachfragen unklare Daten eher noch zusätzlich verschleierte.
Für die Literaturwissenschaft bleibt so die Aufgabe, zunächst einmal zu klären, was an Werken Lernets überhaupt vorliegt. Bei den Dramen und Romanen scheint diese Arbeit erledigt, bei den Gedichten ist es schon weit schwieriger und bei den unzähligen Artikeln, die der Autor in Zeitungen und Zeitschriften publiziert hat, nahezu unmöglich. Geradezu absurd wird die Situation, wenn Germanisten ähnlich Kunsthistorikern beginnen, die "Hand" Lernets in nicht von ihm autorisierten Werken aufzuspüren, so werden die Sondheimer-Memoiren, Vitrine XIII, nach wie vor von einigen Wissenschaftlern trotz anscheinend klarer ‚Beweislage‘ Lernet-Holenia zugeschrieben, der bestenfalls deren geheimnisvoller Herausgeber und Kommentator XXX gewesen sein kann. 1
2.
Die Vielzahl an Gattungen, die in seinem Werk vertreten sind, und die unterschiedlichen Anforderungen, die er an seine Texte stellte, erklären vielleicht, daß Lernet-Hoienia nach wie vor fast ausschließlich nach einzelnen Teilen seines Oeuvres beurteilt wird: So zählen ihn die einen abschätzig zur, gehobenen Buchgemeinschaftsliteratur‘ 2, andere wiederum sehen in ihm in grotesk anmutender Verklärung den größten österreichischen Prosaautor des 20. Jahrhunderts neben Arthur Schnitzler. 3
Auffallend ist zudem, daß Lernet-Holenias Werk häufig nach außerliterarischen Kriterien bewertet wird. Sein Publikum teilt sich hauptsächlich in diejenigen, welche ihn aus weltanschaulichen Gründen verehren, und in jene, die ihn aus ebensolchen hassen. Anhand der Bücher werden bereits bestehende Vorurteile zweifelsfrei ,bewiesen'. Mit wenigen Ausnahmen - und gerade die letzten Jahre haben die Situation zum Besseren verändert - hat es die Literaturwissenschaft bisher nicht zuwege gebracht, Lernet-Holenias Werke nach klaren Richtlinien zu betrachten; Zu Lebzeiten ein enfant terrible, das an Glanz die meisten seiner Werke wohl bei weitem überstrahlt hat, ist diese Gewichtung - hier das spannende Leben, dort die Literatur - anscheinend auch nach seinem Tod für den Großteil der Rezipienten verbindlich geblieben. Das ‚grandseigneurale‘ Gehabe, das Schreiben als Arbeit (und die Werke als Früchte der Anstrengung) zu Gunsten des Erscheinungsbildes eines ,Dichters' in den Hintergrund zu drängen, hat mit dazu beigetragen, daß Lernet-Holenias Werk größtenteils noch nicht literaturwissenschaftlich aufgearbeitet, ja nach wie vor in großen Zügen unbekannt ist.
3.
Was in der Vielzahl der Werke untergeht, ist der Anspruch, den Alexander Lernet-Holenia grundsätzlich an sich und seine Arbeit stellte. Die Grundzüge seiner Poetik waren bereits früh klar definiert. Schon Anfang der zwanziger Jahre schrieb er an Hermann Bahr, daß ,,es eigentlich immer Gott ist, der schreibt, nicht ich." 4 Bereits damals versuchte er - schon als junger Mann geschult in und platonischer Philosophie - strikt zwischen ‚Schreibhandwerk‘ und ‚wahrem Dichten‘ zu trennen: Das, was eine wirkliche Dichtung sei nicht vom Autor geprägt, sondern gleichsam von Gott eingegeben.
In einem anderen, noch früheren Brief, ebenfalls an Hermann Bahr gerichtet, heißt es:
Der Gott ist aber grenzenlos und maßlos, und ein Gedicht ist nichts als der Wachsabdruck seines Vorüberschreitens, seiner Gestalt, seines Tritts. […] Wie sich die Fußspur eines Heiligen dem härtesten Nein einprägte, erweicht der amorphe Stoff des Gedichts vom Vorübertritt des unsäglichen und wird hart zu unsichtbarer Gestalt. Innen zu dieser Spur tastend und mit-dem Schwung der Hand schnell über das Feste ins Unsichtbare hinaus eine Linie weiterziehend, sehen wir plötzlich und blendend diese Gestalt. Dies nur kann der Zweck des Gedichtes sein: Wie die innere Höhlung einer Maske oder wie der geschnittene Stein eines Siegelrings die andere unvorstellbare Gestalt des Unsichtbaren festzuhalten. So tragt jedes große Kunstwerk um sich herum die genaue Einfügung des Unsäglichen. 5
Der Dichter als Fährtensucher, das Gedicht als Abdruck der unsichtbaren Spuren des Heiligen - dieser zutiefst religiös anmutende Ansatz ist natürlich nicht neu, man findet ihn in Abwandlungen bei vielen Lyrikern, unter anderem bei dem von Lernet-Holenia verehrten Hölderlin, dessen Hymnen auch Martin Heidegger in seinem 1946 erschienenen Buch Holzwege interpretiert hat. Im darin enthaltenen Aufsatz Wozu Dichter? findet sich eine interessante Parallele zu der oben, zitierten Briefstelle des jungen Lernet-Holenia:
Dichter sind die Sterblichen, die […] die Spur der entflohenen Götter spüren, auf deren Spur bleiben und so den verwandten Sterblichen den Weg spuren zur Wende. […] Dichter sein in dürftiger Zeit heißt: singend auf die Spur der entflohenen Götter achten. Darum sagt der Dichter zur Zeit der Weltnacht das Heilige. 6
Vergleicht man beide Stellen, wird klar, daß mit der Feststellung, daß der Dichter der Empfänger eines göttlichen Diktats sei, nicht nur etwas über das dichterische Werk, sondern auch und vor allem etwas über die erhabene Position des Dichters in der Gesellschaft ausgesagt wird. ,,Unermeßliches Leid / tragen die Dichter. Denn / gewaltiger fühlen sie / als sonst die Menschen, / wenngleich das gleiche." Mit dieser Stelle aus der ,,Hymne zum feierlichen Staatsakt Österreichs für Johann Wolfgang von Goethe am 28. August 1949“ wird die Erhabenheit noch einmal hervorgehoben, zugleich jedoch auch die mit dieser Position verbundene Gefahr betont. Wenn ein Gedicht nur auf Grund einer besonderen Sensibilität entstehen kann, heißt das zugleich auch, daß mit ebendieser Sensibilität Opfer verbunden sind.
Lernet-Holenia hatte also bereits im Alter von 25 Jahren zu einer Theorie seiner Dichtung gefunden, die er zeitlebens vertrat. Autoren, die beispielsweise durch Experimente versuchten, von überliefertem abzugehen und etwas ,Neues' zu schaffen, hatten in dieser Theorie keinen Platz, sie wurden von ihm häufig als Scharlatane abgetan. Ein Großteil des Lernetschen Widerstands gegen die literarische Avantgarde fußt daher in diesen frühen Überlegungen. Was Lernet zudem ablehnte, war, ebenfalls eine Folge der zuvor beschriebenen Gedanken, eine allzu hohe Achtung der bloßen Autorschaft eines Werks. Mit anderen Worten: ein Autor war nicht deshalb etwas Besonderes, weil er ein Buch geschrieben hatte, sondern weil gerade er dazu ausersehen war, überhaupt Derartiges schreiben zu können. Der Literat ist demzufolge kein autonomes Wesen, er kann nur versuchen, das, was ihm ‚diktiert‘ wird, in eine literarische Form zu bringen. Dies wiederum setzt technische Fähigkeiten voraus, die Lernet durchaus hoch einschätzte. Erst aus dem Zusammenspiel von Seherqualitäten und der wesentlich geringer bewerteten technischen Perfektion entstand das, was er schließlich unter dem Begriff ‚Dichter‘ verstand.
Der Gedanke, wonach ein Autor nicht allein verantwortlich für seinen Text sei, taucht auch in Lernets Briefen auf: So steht in einem Brief an Stefan Zweig aus dem Jahre 1936, in dem es um Baron Bagge und den Roman Die Auferstehung des Maltravers geht:
Eigentlich ist das tragisch: dass die Persönlichkeit auch im geistigsten Beruf, den es giebt [sic!], ebenso ausgeschaltet ist wie auch sonst jetzt mehr und mehr; dass es, ebenso wie ein andrer ist, der uns regiert, auch etwas andres ist, das unsre Bücher schreibt. Nicht wir selbst. Man muß sehr, sehr bescheiden sein, wenn man, daß, einsieht. [...] Wozu sind wir dann wirklich da? Als artistische Instrumente für die Energien andrer, ob diese Energien nun in Reformatoren, Diktatoren, im Volk oder in Gott wohnen? Nie scheint es, sind wir die Autoren immer nur die Schreiber. 7
Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich schrieb er Ähnliches an Felix Braun: ,,Was irgend wir an Wirklichem schreiben, schreiben wir ja nicht selbst, es ist Diktat, das wir nicht ganz verstehen, und nachstammeln“ 8
Hiermit werden im übrigen auch einige der Anekdoten verständlich, die um die Figur Lernet-Holenia kursierten: etwa diejenigen Schreibtisch, der natürlich nicht nach Arbeit aussehen durfte, oder die, wonach er nicht ‚Schriftsteller‘ genannt werden wollte, da ihm dieser-Begriff zu sehr nach Berufsbezeichnung klang, der Begriff ‚Beruf‘ seiner Ansicht nach so gar nichts mit Eingebung zu tun hatte und zudem den dichterischen Vorgang auf das Detail der Arbeit mit der Sprache reduzierte.
4.
Der hohe Anspruch, der mit dieser Art von ‚Dichtungstheorie‘ verbunden war, konnte von Lernet selbst natürlich nicht immer erfüllt werden: Zum einen mußte ganz einfach dauernd etwas geschrieben werden, um durch Übung die Voraussetzung nämlich technische Fähigkeiten zu erlangen, zum anderen ließ es seine finanzielle Lage nicht zu, nur ‚wirkliche‘ Dichtung zu veröffentlichen. Nahezu alle Dramen, die er ab der Mitte der zwanziger Jahre verfaßte, sind aus dieser Mischung von Broterwerb und Fingerübung heraus entstanden. Wenig überraschend, befriedigten ihn die hohen Einkünfte allerdings nur zum Teil - außerdem war er stets darum bemüht, so manchen bewunderten Kollegen darauf hinzuweisen, daß diese Theaterstücke nicht das seien, was er eigentlich schreiben könne: In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahre 1926 liest sich das folgendermaßen:
Nach der "Österreichischen Komödie", von der Sie die Existenz wissen, bin ich noch zu einer andern gekommen, "Ollapotrida" genannt, die ihre Ergänzung in einem ‚Nachspiel auf dem Theater‘ findet, und vergleiche ich die Art des Interesses um Demetrius, (um nicht zu sagen: für Demetrius) mit der merkwürdigen Gier verschiedener Theater nach diesem letzten Stück, so bin ich, trotz aller Freude, kälter als Edgar Poe errechnet zu haben, was gefällt, eher noch über die Stelle bestürzt, an die ich geraten bin. Ich kehre um, ich nehme einige Vorteile des publik wirksamen mit und kehre sicher um, denn ich bin wirklich noch der, der vor weniger als zwei Jahren noch ein paar Hymnen geschrieben hat, bei denen einigen Leuten die Tränen in die Augen gekommen sind, und wofür [bin] ich schließlich von Gott mit dieser und jener Tätigkeit belehnt, wenn ich sie bloß dazu benütze, Handlungen aufzubauen, die hermetisch und von allen Seiten vollkommen sind wie ein von völlig gleichen Flächen begrenzter, geometrischer Körper, - den ich dann mit Späßen auffülle? Ich will, auf unabsehbare Zeit, nichts mehr davon wissen [...]. 9
So ergibt sich bereits in den zwanziger Jahren eine Lernetsche Rangliste der Gattungen, die sich durch sein gesamtes literarisches Werk zieht: An der Spitze steht die Lyrik, die Lernet einzig als ‚wahre‘ Dichtung gelten läßt. Qualitativ am nächsten kommt ihr noch die Prosa, die allerdings eine so große Spannweite in sich birgt, daß Lernet sie kaum als eine Gattung wertet. 1965 schreibt er in einem Brief an Michael Guttenbrunner:
[A]us Zufall habe ich gestern oder vorgestern ein paar Zeilen in einem meiner alten Gedichtbücher überflogen - ich wollte es versenden und habe vorher noch hineingesehen: es waren keinesfalls sehr gute Gedichte, und dennoch ist mir, eben über dieser Lektüre, klargeworden, daß es keinen Sinn hat, sich, wenn schon mit Literatur, mit etwas anderem als mit Gedichten zu beschäftigen. Romane sind neben -einem- mäßigen Gedichtbuch ordinärer Quatsch, bei dem einem immer Leute wie Hans Habe in den Sinn kommen. Schon quantitativ ist ein Roman widerwärtig und unappetitlich. Historisches und wissenschaftliches mag eben noch hingehen - belletristische Prosa ist einfach gemein - zum mindesten im allgemeinen; und gut ist sie eigentlich nur, wenn sie ins Philosophische oder Lyrische gerät. 10
Die dritte Gattung schließlich, das Drama, war für Lernet eine Spielwiese seines handwerklichen Talents. Es kam ihm dabei nicht auf den Inhalt an, sondern einzig und allein auf die technische Perfektion. Lernets 1926 formulierte ‚theatralische Thesen‘ sind eine umfassende Darstellung seiner Vorstellung vom Drama: „Wer etwas zu sagen hat, der schreibt keine Dramen. Denn Dramen sagen nichts aus als sich selbst. Das Theater ist nicht der Ausdruck des Genialischen, sondern der Durchschnitt durch eine Welt“. 11 Lernets Theaterschaffen steht damit sinnbildlich für eine wichtige Facette seines Schaffens, die er selbst einmal so umschrieb: „Man muß manchmal schlicht schreiben können, wenn man auch davon leben muß, so wie ich [...].“
Dieses ‚schlichte [S]chreiben‘ war aber nur eine Facette seines Schaffens. Daneben blieb Lernet-Holenia auch immer der Schöpfer schwer zugänglicher Lyrik und einer ebenso anspruchsvollen Prosa. Diese ihm eigene Vielschichtigkeit, die Fähigkeit, zur gleichen Zeit Bücher mit diametral entgegengesetzten Ansprüchen zu publizieren, Bücher, die einzeln betrachtet den jeweiligen Qualitätsansprüchen problemlos gerecht wurden, zeichnet sein Werk aus. Sie macht es allerdings auch nahezu unmöglich, dieses Werk als Ganzes zu sehen und zu beschreiben.
Lernet-Holenias Vorkriegsproduktion läßt sich etwa so summieren: Lyrik als das, was er schreiben wollte - und vor allem als das, was ein wirklicher Dichter schreiben müsse - brachte zu wenig Geld, um davon leben zu können; die vier publizierten Gedichtbände entstanden nebenbei und doch als Ausdruck dessen, was eigentlich möglich wäre. Die Dramen waren nichts weiter als ein Spiel, das Lernet erstaunlich schnell verstanden hatte - bereits sein erstes Drama, Demetrius, 1925 entstanden, war ein großer Erfolg -, ein Spiel, das er aber durch zu häufiges Variieren ein und desselben Themas so weit ausreizte, bis kaum jemand mehr ins Theater kam und sich die Kritiker auf ihn eingeschossen haten. Die berühmt gewordenen Sätze aus seiner Verteidigungsrede im sogenannten Kleist-Preis-Skandal haben wohl einen wahren Kern:
Ich schreibe meine Stücke [...] nur der Tantiemen halber und alle jene, die ihre Stücke auch nur der Tantiemen halber schreiben, sollten sich schämen, daß sie's nicht ebenfalls eingestehen. An wirklicher Dichtung gemessen, sind ,unsere‘ Stücke ohnedem nur Quark.12
Nachdem also seine Dramen um 1930 fast ausschließlich zu ‚Sargnägeln‘ geworden waren - er selbst nannte sie so -, wechselte er das Metier und wurde Romanautor, wobei anfangs dieselben Beweggründe eine Rolle spielten wie beim Verfassen von Dramen. Den meisten der zwischen 1930 und 1934 erschienenen Romane kann man wohl kaum besonderen Tiefgang nachsagen, dennoch zeigen sie wie schon die ersten Theaterstücke, wie unglaublich schnell sich Lernet umstellen konnte. Der sich sofort einstellende Erfolg ließ ihn und seine Kasse nicht zur Ruhe kommen. Ab etwa 1935 änderte sich jedoch in manchen Büchern sein Stil: Er selbst bezeichnete seine Prosa fortan als ,lyrisch', für den Leser bedeutete das ungleich mehr Tiefgang - und mehr Qualität.
5.
Wie bereits gesagt, geschah all dies, ohne daß Lernet seine Ideale in irgendeiner Hinsicht über Bord warf. Trotz seiner ungebrochenen Boulevardproduktion entwickelte er seine Vorstellung vom ‚Dichter, wie er zu sein habe‘, weiter. In einem bereits publizierten Brief an Gottfried Benn aus dem Jahre 1933 finden sich dafür einige wichtige Anhaltspunkte: „[V]on Natur aus stellt der Künstler sich niemad anderen zur Verfügung als sich selbst oder, bestenfalls, seinen Göttern“13, heißt es da und:
Der Künstler hat nicht mitzumachen, was die Nation tut, sondern die Nation hat mitzumachen, was der Künstler tut. Ich zum mindesten stehe auf dem Standpunkt, daß ich, selbst wenn es sich nicht nur um künstlerische, sondern sogar um nationale Dinge dreht, der Nation mehr zu sagen habe, als die Nation mir zu sagen hat. […] Der Dichter ist der Adelige der Nation, nicht ihr bloßer Angehöriger. Ein Volk, das seinen Dichtern nur dann einen Rang einräumt, wenn sie ihm passen, wird bald keine Dichter mehr hervorbringen.14
Darin findet sich also wieder die Betonung der herausragenden Position des Dichtens, wie schon im frühen Brief an Hermann Bahr, hinzu kommt nun eine eminent politische Komponente - der Anlaß des 1933, also im Jahr der Machtergreifung Hitlers, abgefaßten Briefes ist schließlich Gottfried Benns Hinwendung zum Nationalsozialismus. Ein weiterer Punkt der Lernetschen Poetik kommt darin zum Ausdruck: Ein Dichter habe alles zu tun, um nicht von der Politik vereinnahmt werden zu können. Das heißt nicht, daß er nichts sagen soll, im Gegenteil, seine besondere Position, hervorgerufen auch durch die oben beschriebene besondere Sensibilität, gibt ihm das Recht, sich zu äußern - und den anderen die Pflicht zuzuhören. Aus diesen Zeilen ergibt sich fast so etwas wie ein politischer Auftrag, den ein ‚wirklicher‘ Dichter zu erfüllen habe. Übrigens gibt es auch zu diesem Zitat eine Parallele bei Heidegger, wiederum in dessen Aufsatz, Wozu Dichter?: „Wir anderen müssen auf das Sagen dieser Dichter hören lernen, gesetzt, daß wir uns nicht an der Zeit, die das Sein verbirgt, weil sie es birgt, dadurch vorbeitäuschen daß wir die Zeit nur aus dem Seienden errechnen, indem wir dieses zergliedern.“15
In diesen Sätzen ist eine Richtung vorgegeben, die auch für Lernet-Holenia bindend war: ‚Das Seiende zu zergliedern‘ war etwas, was auch er ablehnte. Was sein ‚idealer Dichter‘ zu sagen hatte, war viel wichtiger, war nicht tagespolitisch, sondern geradezu prophetisch auf die Inhalte zielend, die von den anderen nicht wahrgenommen werden konnten. Nicht ohne Grund zitierte Lernet-Holenia in den folgenden Jahren häufig Nostradamus: Ein Dichter hatte seiner Meinung nach immer auch ein Seher, ein Prophet zu sein.
Von den ab Mitte der dreißiger Jahre bis etwa 1955 entstandenen Büchern Lernet-Holenias genügen nicht alle diesen Vorgaben, denn natürlich waren auch zu dieser Zeit die äußeren Zwänge, also das Geldverdienen, nach wie vor zu wichtig. Während des 2. Weltkrieges aber hatte er Gelegenheit, sein Ideal auszuarbeiten. Das erste Resultat, Mars im Widder aus dem Jahre 1941, kann demnach als Interpretation eines Krieges durch einen kritischen Dichter, wie ich ihn oben zu beschreiben versucht habe, gelten. Die Kritik, die sich in diesem Buch verbirgt, ist evident, doch ist es keine offensichtliche Anklage gegen etwas Bestehendes, sondern im wesentlichen die Darstellung von Vorgängen, die tatsächlich vorgefallen sind. Wenn Lernet-Holenia etwa den Polenfeldzug so beschreibt, wie er stattgefunden hat dann ist das allein deshalb kritisch zu nennen, weil, wie wir alle wissen (und vor allem die damaligen Leser wußten), die NS-Propaganda anderes berichtete. Diese Falschmeldungen werden in Lernets Buch nicht einmal gestreift - er erzählt, was er zu sagen hat, nicht, was der Staat behauptet - eine Analogie zum oben zitierten Benn-Brief.
Mars im Widder zeigt aber noch eine andere Facette von Lernets Kritik, die, wie ich meine, für sein Werk bestimmend ist. Zur Kritik ohne Anklage kommt nämlich der Versuch einer prophetischen Deutung: Noch bevor der Feldzug richtig begonnen hat, beobachtet Wallmoden bereits dessen Folgen: den Zug der Krebse, der, wie Lernet-Holenia an Ernst Schönwiese schrieb, „das Vorrollen der russischen Panzer symbolisiert“16. In der Aktion fände sich also bereits die Reaktion, im Angriff Deutschlands auf Polen der Gegenschlag durch die Rote Armee.
Abgesehen davon, daß es sich hierbei um eine bemerkenswerte Weitsicht handeln würde - das Buch wurde Anfang 1940 fertiggestellt -, wäre dies ein schönes Beispiel dafür, was Lernet-Holenia unter Kritik verstand und unter der Aufgabe eines kritischen Dichters: Kritik ist für ihn nur dann angebracht, wenn sie zugleich auch Warnung ist.
Einfach Kritik an etwas zu üben, was gerade passierte, wäre seiner Meinung nach dagegen nicht Aufgabe des Dichters, sondern bestenfalls eine journalistische Darstellung, da dies ohnehin offensichtlich und damit von allen wahrnehmbar war.
Daß die von Lernet gewünschte Art des Kritik-Übens nur funktionierte, wenn die Öffentlichkeit dem Dichter denselben Rang einräumt wie er sich selbst, ist wohl das große Problem an seiner Theorie. Er selbst behandelte diesen Punkt in vielen Briefen vor allem aus der Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg. Diesbezüglich am eindrucksvollsten ist vielleicht eine Stelle aus einem Brief an Hans Weigel:
Aber die wirklichen Machthaber in aller Welt nehmen uns für so unwichtig, wie wir‘s defacto sind, und die Industriellen, die Insassen der Cadillacs und Buicks, die Geschäftsleute und Wursthandler lachen über unsere Aufgeregtheit. [...] Denn in den Staaten, in Gods own Country liest man weder Weigel noch Lernet-Holenia, und auch in Wien und Berlin liest uns nur eine hauchdünne Schicht.
Es ist gut, daß diese Schicht hauchdünn ist, diese Dünnheit garantiert ihren Wert und vielleicht wird in hundert Jahren die Wirkung, die von dieser Schicht ausgegangen sein wird, eine ebenso starke sein, wie jetzt die Wirkung der dünnen Schicht von vor hundert Jahren sehr stark geworden ist, freilich degradiert zu den Formen der Gegenwart. Im Augenblick aber sind wir machtlos und kraftlos wie Schmetterlinge. Wir sind keine D'Annunzios; und selbst D'Annunzio hat Fiume nicht mit Feuilletons, sondern mit wirklichen Waffen erobert. Vertausche ich aber diese Feder, die Ihnen schreibt, mit der Maschinenpistole, so bin ich zwar im Angesichte der Atombombe ein geringfügiger strategischer Faktor, aber ein Faktor immerhin.17
Nun, dieser Brief ist 1950 geschrieben worden, und Lernet hat, wie wir wissen, die Feder nicht mit der Maschinenpistole vertauscht, sondern in den folgenden Jahren noch einige Romane geschrieben, in denen er versuchte, seine persönliche Art der prophetischen Kritik zu verfeinern. Die Schärfe seines Tonfalls nahm allerdings immer mehr zu, proportional zur wachsenden Resignation in bezug auf die Macht eines Dichters in der Öffentlichkeit.
Wenn er in dieser Zeit in einem Brief über eines seiner Bücher schrieb, klang das oft so:
Geschlagen mit einem mir selbst fast unerträglichen, scharfen Blick, gebe ich für unsere Ideale theoretisch alles, praktisch nichts. Kleinbürgertum, Skilaufen, Vierte Partei, Zweizimmerwohnungen, Windeln auf dem Klopfbalkon, selbstverhängte Diktatur, Bestseller, keine Dienstboten, Thomas Mann - Pringsheim, Erholungsheime für Arbeiter, Acherons, - das ist unsere Zukunft. Steht alles im ,Saint-Germain", - der (Du wirst lachen) in der Schweiz ein Bestseller geworden ist. Denn dort hat man - vielleicht – noch Augen für die schleichende Katastrophe.18
6.
1955 war es dann scheinbar vollkommen vorbei mit den großen Idealen. Lernet-Holenia stürzte sich auf das Finanzamt - ein offensichtlicher Bruch mit seinen alten Vorstellungen. Erklärbar ist das vielleicht am ehesten noch damit, daß er sich - man muß dabei immer sein oben beschriebenes Selbstverständnis bedenken - quasi von seinem eigenen Land verraten fühlte, das seiner Meinung nach viel zu hohe Steuerforderungen an ihn stellte. Jedenfalls rückten von da an auch in seiner Literatur immer mehr die Probleme des Alltags in den Vordergrund.
Interessanterweise stammt das Bild, das von Lernet-Holenia heute noch kursiert, vor allem aus dieser Zeit. Gebrochen von einigen Kavallerie-Einsprengseln, wird es von seinen Auftritten als alter Mann dominiert. Seine berühmtgewordenen Aktionen - und ich verwende diesen Begriff hier durchaus auch im kunsthistorischen Sinn, obwohl ihm das sicher nicht gefallen hätte - Aktionen wie beispielsweise sein Rücktritt als Präsident des österreichischen P.E.N. Clubs verschafften ihm eine zweifelhafte Berühmtheit, die bis heute anhält und alles andere an dieser vielschichtigen Figur verdeckt.
Lernet selbst lag, wie zu Beginn bereits angedeutet, nicht viel daran, diese Legenden, die sich um seine Person rankten' zu entwirren, er ging wahrscheinlich davon aus, daß eine Legendenbildung als Grundlage einer gewissen Berühmtheit nicht schaden könne. Was seine Person betrifft, hatte er vollkommen recht - er gehörte zeitlebens zu den bekannteren Schriftstellern des deutschen Sprachraums. Seine Literatur allerdings rückte nach und nach in den Hintergrund. Zwar wurden immer wieder Stücke aufgeführt und Hörspiele gesendet, manchmal auch einer seiner alten Romane verfilmt, - die Bücher, die er ab etwa 1955 publiziert hatte, waren jedoch weder besonders erfolgreich, noch wurde ihnen außergewöhnliche literarische Qualität attestiert. Im Gegenteil, Lernet mußte sich immer häufiger mit Rezensenten auseinandersetzen, die ein Buch nicht so bewertet hatten, wie er es für richtig hielt, und denen er dafür regelrechte Strafpredigten hielt, die oft in dem Vorwurf gipfelten, sie oder ihre Zeitung wären von irgendwelchen Mächten im Hintergrund, also von den Habsburgern bis hin zur Industriellenvereinigung, angestiftet und finanziert worden. Derlei Kleinkriege trugen nicht dazu bei, das Image eines ‚ernsthaften, noblen Dichters‘ entstehen zu lassen, als der er stets gelten wollte.
1 Vgl. den Briefwechsel zwischen Zsolnay-Verlag, Robert Neumann, Alexander Lernet-Holenia sowie dem Anwalt Hugo Oftinger, dem Vertreter der Erbin Alphonse de Sondheimers, Gladys Weigner-de Sondheimer in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek; Handschriftensammlung (Nachlass Alexander Lernet-Holenia, RZ 210/86, Zuwachsprotokoll Nr. 639; Kiste 184/1).
2 Kurt Klinger: Die österreichische Nachkriegsliteratur' In: Literatur und Kritik 7 (1972),5. 147.
3 Vgl. Günter Berger: Eine recht unbequeme Individualität. Zum 100. Geburtstag Alexander Lernet-Holenias. In: lViener Zeitung (17.10.1997), S. 10.
4 Alexander Lernet-Holenia an Hermann Bahr,21.6.1924. In: Alexander Lernet-Holenia: Briefe. Hrsg. von Roman Roöek. Unveröffentlichtes Typoskript.
5 Aexander Lernet-Holenia an Hermann Bahr, 2.7.1922, ebda.
6 Martin Heidegger: Holzwege. Hrsg. von Friedrich W. von Herrmann. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1994'S' 268'
7 Alexander Lernet-Holenia an Stef an Zweig' 23.6.1936. In: Alexander Lernet-Holenia: Briefe.
8 Alexander Lernet-Holenia an Felix Braun, 5.12.1946; Wiener Stadt- und Landesbibliothek: Handschriftensammlung.
9 Alexander Lernet-Holenia an Hugo von Hofmannsthal, 28.6.1926. In: Alexander Lernet-Holenia: Briefe.
10 Alexander Lernet-Holenia an Michael Guttenbrunner, 10.6.1965; Privatbesitz.
11 Alexander Lernet-Holenia: Theater, Publikum und Dichter. Theatralische Thesen. In: Neues Wiener Journal (3.10.1926).
12 Alexander Lernet-Holenia: Das gestohlene Krokodil. In: Die Literatur 32 (September 1930), S. 699.
13 Alexander Lernet-Holenia an Gottfried Benn, 27.5.1933. In: Alexander Lernet-Holenia.Die Lust an der Ungleichzeitigkeit. Wien 1997, S.53.
14 Ebda., S. 57f.
15 Martin Heidegger: Holzwege, S. 268.
16 Alexander Lernet-Holenia an Ernst Schönwiese, 9.2.1968. Nachlaß Ernst Schönwiese, österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Diese Briefstelle ist durchaus passend, da sie allerdings fast 30 Jahre später entstanden ist, kann sie keinesfalls als "Konzept" verstanden werden (,,vaticinatio ex eventu").
17 Alexander Lernet-Holenia an Hans Weigel, 27.6.1950; Wiener Stadt- und Landesbibliothek: Handschriftensammlung.
18 Alexander Lernet-Holenia an Milan Dubrovic, 25.2.1949; Wiener Stadt- und Landesbibliothek: Handschriftensammlung.