Alexander Lernet-Holenia

Menü

Dassanowsky, Robert

Auszug aus einer Rede: ... Andeutung einer österreichischen Identitätswende

Für einen Autor, der bisher fast außerhalb der Richtlinien der deutschen Literatur gestanden hat, verspricht dieses 100. Geburtsjahr, von Herrn Mag. Alexander Dreihann-Holenia gestaltet, das erfolgreichste seit den Jahren vor seinem Tod zu werden. Im Jahre 1996 erlangte das Werk Lernet-Holenias schon bei einem Symposium über die innere Emigration an der Universität Salzburg erneute Beachtung. Diesen Monat veranstaltete die Gesellschaft für Literatur bereits eine Lernet-Holenia-Tagung, und für Juni und Oktober sind Ausstellungen in Wien geplant. Ein weiteres Symposium soll auch im Herbst in Marbach stattfinden. [Siehe Termine.] 1996 erschien auch mein Buch "Phantom Empires", die erste systematische Analyse, die sich mit Österreich und dem gesellschaftspolitischen Kommentar des Schriftstellers über die Identitätskrise Österreichs befaßt. Durch dieses Buch hoffe ich, das Interesse an diesem letzten Vertreter der literarischen Tradition des Jung-Wien-Impressionismus wiederzuerwecken, jedoch nicht nur an ihm, sondern vor allem an seinen einschlägigen Bemerkungen darüber, was Österreich ist und was es sein muß. Es ist unmöglich, sich mit Lernet-Holenia zu beschäftigen, ohne die österreichische Identität einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Diese Notwendigkeit, sich endlich mit Lernet-Holenia auseinanderzusetzen, deutet die Bereitschaft an, auch die veränderte Rolle Österreichs im nächsten Jahrhundert zu betrachten. Es ist mir eine Ehre und ein besonderes Vergnügen, im St. Johann Club in diesem Kreise über Alexander Lernet-Holenia und Österreich zu sprechen, an den er sich so oft wandte und den er als verständnisvolles Publikum bezeichnete.

Trotz seiner 25 Theaterstücke, 24 Romane, zahlreicher Kurzgeschichten, Novellen, Gedichtesammlungen, Essays, Biographien, Radio- und Fernsehspiele und Übersetzungen wurde sein Werk oft mit flüchtigen, ja sogar unzutreffenden Kritiken und Bemerkungen über die Person des Autors abgetan. Lernet-Holenias Ruf, ein "konservativer Revolutionär" und ein "schwieriger Herr" zu sein, der sich vor allem in den oberen Schichten der Wiener Gesellschaft des 20. Jahrhunderts bewegte, ist der Anerkennung seines besonderen Talentes lange Zeit im Wege gestanden. Oft hat er den Zorn seiner Kritiker erweckt, weil er seine Arbeiten nicht ernst genug genommen hat und weil er den literarischen Strömungen seiner Zeit, sowohl zwischen den beiden Weltkriegen als auch während der Nazizeit, ausgewichen ist. Andererseits wurde er jedoch von berühmten Männern wie Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke voller Begeisterung gelobt. Viele Germanisten waren nicht gewillt, sich mit den von Lernet-Holenia angesprochenen Themen auseinanderzusetzen. Die Darstellung eines dysfunktionalen, postimperialen Österreichs in seinen Werken wurde nur allzuoft als reine Nostalgie interpretiert, ist aber vielmehr als heftige Kritik an der österreichischen Identitätskrise nach 1918 zu verstehen. Lernet-Holenias Konzept von Österreich als dem Knotenpunkt Mitteleuropas und seine Kritik an der Art und Weise, wie die Nation sich weigerte, mit seiner Vergangenheit zu leben, waren in den Jahrzehnten nach der Gründung der 2. Republik nicht gefragt. Seit den späten achtziger Jahren ist das Interesse an den Werken Lernet-Holenias in zunehmendem Maße gewachsen. Die neue Beliebtheit seiner Schriften fällt offensichtlich mit dem Wiederaufleben einer mitteleuropäischen Idee zusammen, einer Idee, von der man lange Zeit annahm, daß sie ein Jahrhundert des Nationalismus und Totalitarismus nicht überlebt hatte.

Aufgrund seiner Vergangenheit als Großmacht, während der es bedeutenden Einfluß ausübte, und seiner multikulturellen Bestandteile paßte Österreich wohl nie so recht in die 1955 von ihm selbst erwählte Rolle einer neutralen Alpenrebublik nach Schweizer Vorbild. Der Eiserne Vorhang ermöglichte es der Republik, ihren mitteleuropäischen Charakter zu verleugnen und eine neue Identität in dem beschränkenden Rahmen der Alpenrepublik zu finden. Trotz seiner Stellung als kleines, neutrales Land war stets Österreichs multinationale Vergangenheit als Großmacht zu erkennen, wenn es weltweite Organisationen beherbergte oder als Brücke zwischen den beiden Blocken in Europa fungierte. Da es nicht als zusätzliches deutsches Bundesland betrachtet werden wollte, forderte Österreich sein Image als österreichische Nation, aber wie Lernet-Holenia in seinen Romanen und Schriften der fünfziger und sechziger Jahre verdeutlicht, bedeutete das die Heraufbeschwörung des grundlegenden Wesens einer Kulturnation, die weniger in den Alpenländern als vielmehr in Wiens historischer Rolle als Hauptstadt im Zentrum Europas verankert liegt. Das Konzept "Mitteleuropa", jedoch, war in gleicher Weise tabu wie die Familie Habsburg selbst. Alexander Lernet-Holenia war der Meinung, daß die zweite "imperiale Republik" ebenso stark von der Erinnerung an das Kaiserreich beherrscht wird wie seinerzeit die erste, und dass es reine Heuchelei ist, wenn man die konstruktive Rolle Österreichs in bezug auf Mitteleuropa ignoriert, während man im Stillen weiterhin die sozialen Grundsätze der Gesellschaft vor 1918 anbetet. Es war ein langwieriger Prozeß, bis Österreich sich endlich mit seiner Vergangenheit während des Ständestaates und des Nationalsozialismus abgefunden hatte. Noch immer besteht eine äußerst zwiespältige Beziehung zu diesem Schattenreich, das nicht verschwinden will und auch nicht verschwinden sollte. Die Identität Österreichs und der Österreicher ist bereits zweimal von ihrer Vergangenheit getrennt worden, aber rätselhafterweise wird sie noch immer von ihr genährt. Versuche, eine starke neutrale und internationale Rolle wiederzufinden, sind ein rein äußerliches Hilfsmittel geblieben. Alexander Lernet-Holenia ist von diesem Gedanken an eine österreichische Identitätskrise besessen, und wohl kaum ist diese je kritischer und gleichzeitig verständnisvoller erforscht worden als in seinen Arbeiten.

Dieser mitteleuropäischen Identität war es bereits während der letzten Tage des Kommunismus gelungen, in Osteuropa einzudringen. Bei einer Konferenz im Mai 1988 in Lissabon beschwor der ungarische Schriftsteller György Konrad das Gesepenst einer selbständigen mitteleuropäischen Kultur vor der entsetzten sowjetischen Delegation herauf. Der polnische Schriftsteller Stefan Kaszynski nannte diese Identität ein Bewusstsein, das sich nicht durch Grenzen auf der Landkarte festlegen lasse, und das "eine viel längere Lebensdauer als reale Wirklichkeiten" habe. Wien und Budapest sind für Konrad immer noch die Doppelhauptstädte Mitteleuropas, eines Staatengebildes, das aus einer historisch/kulturellen Wechselbeziehung heraus gewachsen ist und das den Zusammenbruch des Habsburger Reiches sowohl wie Faschismus und Kommunismus überstanden hat. Dieses Gebilde besitzt einen Eigenwert, der weit über jegliche romantische Vorstellung hinausreicht. Noch 1986 jedoch beharrten die Österreicher auf dem offiziellen Standpunkt, dass "die mitteleuropäische Bewegung nur von den Realitäten jener europäischen Staaten ablenken solle, welche ihre Vergangenheit durch den Eisernen Vorhang verlorgen hatten". Die zweite österreichische Republik hat im Bezug auf seine Vergangenheit oft mehr wie ein Ostblockland reagiert als seine ehemaligen Verbündeten, die sich nun im sowjetischen Herrschaftsbereich befanden.

Es ist insbesondere Lernet-Holenias 1941 erschienener Roman "Mars im Widder", der den deutlichsten Hinweis auf den baldigen Tod Österreichs enthält; mit "Beide Sizilien" und "Der Graf von Saint-Germain" gehört er zu seinen bedeutendsten Werken. "Mars im Widder" wurde von Propagandaminister Goebbels konfisziert und verboten, da in ihm die Polen zu menschlich beschrieben werden, und der Krieg keineswegs aus einer national-sozialistischen Sicht dargestellt wird. Es ist der einzige Roman über den österreichischen Widerstand der während des Dritten Reiches veröffentlicht wurde, aber er hat nur geringe ernsthafte literarische oder soziokulturelle Beachtung erlangt. Lernet-Holenia, der 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde, erlebte den polnischen Felzug selbst mit. Dadurch wurde seine naive Auffassung über Pflicht ebenso wie über das Mitteleuropa, das ihm soviel bedeutete, endgültig zerstört. Da er während des Feldzuges verwundet wurde, arbeitete er kurzfristig als Zensor für das militärische Filmbüro in Berlin und als Drehbuchautor für Unterhaltungsfilme. Wegen der Kontroverse, die sein Buch "Mars im Widder" ausgelöst hatte, wurden die vielen beliebten Bühnenstücke des Autors nicht länger aufgeführt und seine Bücher nicht mehr gedruckt. Lernet-Holenia verbrachte den Grossteil seiner inneren Emigration in seinem Landhaus bei St. Wolfgang, wo er auch Eva Vollbach im Jahre 1945 heiratete.

In seinem 1972 erschienenen Essay über Lernet-Holenia "Suche nach Identität und Protest gegen Geschichte" behauptet Hartmut Scheible, dass die Werke des Autors im allgemeinen ein Protest gegen die Realitäten der österreichischen Politik des 20. Jahrhunderts waren. Ich sehe politische Realität nicht unbedingt gleichbedeutend mit politisch Wünschenswertem oder Notwendigem. Für einen Autor, dessen Werke abgesehen von biographischen Notizen kaum beachtet wurden, sollte ein gesellschaftshistorischer Ansatz dazu beitragen, dass er auf eine neue Art und Weise gelesen wird. In dem neuentstehenden plitischen Klima Europas ist dies von Bedeutung, da nun Lernet-Holenias Visionen von Österreich, die einst als veraltet und elitär betrachtet wurden, in zunehmender Weise ein erwünschter Massstab für die Bewertung der österreichischen Identitätskrise des 20. Jahrhunderts werden konnten, zu einer Zeit, da sich Österreich einem wiedererwachten mitteleuropäischem Regionalismus gegenüber sieht.

Ich bin der Auffassung, dass Literatur die inoffizielle Version von Geschichte festhält, die in der allgemeinen Selbsteinschätzung eines Volkes eine grosse Rolle spielt. Der Mangel an ernsthafter, kritischer Analyse von seiten österreichischer Literaten in Bezug auf die Werke des Autors, konnte durch die inoffizielle Version der Geschichte erklärt werden, die Lernet-Holenia niederschreibt. Seine Geschichtsdarstellung widerspricht vielen der allgemein oder sogar offiziell akzeptierten Vorstellungen davon, worin die Substanz Österreichs liegt. Dies sind die historischen Wahrheiten Österreichs, die durch die Literatur verewigt werden - die lebendige Geschichte von atmenden Männern und Frauen, nicht die gleichbleibenden Formeln einer Ideologie.

Lernet-Holenia sah seine Arbeit in erster Linie als idealistisch, und erst in zweiter politisch oder ideologisch gefärbt. Die Ideologie und Politik sind erkennbar, aber sie sind durchtränkt von dem Verlangen nach einer Revision der Vergangenheit, nicht in der Art und Weise eines Joseph Roth, der Zuflucht in einer utopischen Vergangenheit suchte, sondern als Protest gegen den Verlauf der Geschichte schlechthin. Seine Arbeiten, in denen der gesellschaftspolitische Aspekt klar zu Tage tritt - "Die Auferstehung des Maltavers", "Mars im Widder", "Der Graf von Saint-Germain" - entsprangen seiner Sehnsucht nach der Welt der Habsburger, denn es bedarf dieser Leidenschaft des Autors, um seinen wahren politischen Standpunkt deutlich zu machen, dass Österreich weder ein zweimal aufgewärmter Reststaat ist, eine deutsche Provinz, noch eine zweite Schweiz, sondern dass es eine Identität und eine Rolle besitzt, die mehrere Jahrhunderte Geschichte als Grossmacht notgedrungen bewirkt haben. Lernet-Holenias österreichische Romane scheinen dadurch weitaus provozierender und politisch engagierter, wenn sie mit der Sammlung europäischer Gesellschaftsromane des 20. Jahrhunderts verglichen werden, die der Auflösung des alten Europas ein kritisches Mitgefühl entgegenbringen.

Die Probleme der Identität des österreichischen Volkes konnten nicht während der Lebenszeit des Autors gelöst werden; die Widersprüche von denen die Wiedererfindung des Volkes und die Fragen bezüglich seines ethnischen, kulturellen und historischen Zustandes umgeben sind, setzen sich noch in der post-kommunistischen Ära fort. Die fast 40-jährige Zeitspanne, die zwischen den 1931 erschienenen anti-Kriegs "Abenteuern eines jungen Herren in Polen" und dem 1969 erschienenen postmodernen "Hexen" liegt, hat die Kontroverse um die beiden Themen, wenn auch in unterschiedlichen Romanen, und ihre emotionale Tiefe nicht vermindert: das kaiserliche Erbe und Österreichs führende ethnische/kulturelle Rolle in einem vereinten Mitteleuropa.

Die Fehler politischer Untätigkeit und die Flucht vor der österreichischen Vergangenheit mit dem Versuch die Nation mit einer neuen historisch weit entfernten Identität zu versehen, sind die unbestreitbaren Wahrheiten, die Alexander Lernet-Holenias Schriften über die Lage Österreichs klar erkennbar machen. Mit dem Zusammenbruch des Blocksystems und der wiederauflebenden Faszination mit Mitteleuropa, erwacht auch der Wunsch nach Traditionen, die zwischen den Kulturen herrschten, aufs Neue. Die sich verändernde Identität des österreichischen Volkes jedoch, die Anton Pelinka als "zwischen Deutschland und Mitteleuropa" schwankend bezeichnet, muss erst über den sorgfältig gezüchteten Revisionismus der zweiten Republik hinauswachsen. Die österreichische Vergangenheitsbewältigung, die Lernet-Holenia mit seinen Romanen der fünfziger Jahre anzufachen versuchte, entwickelte sich erst drei Jahrzehnte später, während der Waldheim-Ära zu einem ernstzunehmenden Gesprächsstoff. Erst vor kurzem haben Ereignisse, wie die unterschiedlichen Versionen des "Pentagonale" Abkommens, der Betritt Österreichs zur EU und das Anwachsen der Neo-Nazi-Verbände Fragen über die Definition und Rolle Österreichs im internationalen Rampenlicht aufgeworfen. Alexander Lernet-Holenias Förderung nach öffentlicher Anerkennung des multikulturellen imperialen Erbes als wichtigem Bestandteil der Volksidentität und von Österreichs Rolle in Europa, erscheint nicht länger reaktionär oder nostalgisch. Dies könnten die Bausteine für ein gesünderes Österreich des nächsten Jahrhunderts sein. Lernet-Holenia, der grundlegende Fatalist, wäre davon nicht im Geringsten überrascht gewesen.