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Alexander Lernet-Holenia
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Die materielle Krise der Kultur, Essay von Alexander Lernet Holenia

Erschienen in: In: Der Turm, 3/4, 2. Jahrgang, Wien 1974

Die materielle Krise der Kultur - Der Turm 3-4 2 Jahrgang 1947

Es ist in den vergangenen anderthalb Jahren fortwährend gesagt worden, zur Rettung Europas sei Selbstbesinnung, Zerknirschung, Glaube und kulturelle Einkehr nötig, - die Zeit ist gekommen, endlich auch zu sagen, daß materielle Ordnung zur Rettung der europäischen Kultur zumindest ebenso nötig sei. Die Besinnung Österreichs auf sich selbst, zum Beispiel, ist größer denn je, der Glaube ist stärker, die Zerknirschung läßt nichts zu wünschen übrig, und die Talente sind zahlreich wie immer. Was uns in Wahrheit von der Zeit vor 1938 unterscheidet, ist die einzigartige Unordnung aller Dinge, das Nichtfunktionieren der Institutionen, welche unserer Versorgung mit den alltäglichen Notwendigkeiten dienen, die Unerzogenheit und Ungeschultheit des Nachwuchses, die Unbildung und Desinteressiertheit aller Welt, die Apathie, Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit im allgemeinen. Einzig an denjenigen, die immer wieder zur Tat angespornt werden, an den Kulturtragenden, liegt der Fehler nicht. Er liegt an allen andern. Er liegt an jenen die das Funktionieren des Materiellen gepachtet haben und die nun völlig oder fast völlig, versagen. Kulturelle Leistungen sind unmöglich, wenn die Züge eingestellt werden, Pässe praktisch nicht erhältlich sind, die Insassen aller Bureaux frieren, die Arbeiter zu wenig zu essen haben. Ab nun lehnen die Kulturtragenden jede weitere Aufforderung, sich zu besinnen, sich vor sich selbst zu demütigen und lediglich mit Hilfe Gottes Leistungen zu vollbringen, auf kurzem Wege ab. Sie fordern vielmehr diejenigen, die nicht Kultur schaffen, auf, die Häuser zu beheizen, die Züge verkehren zu lassen, Pässe auszustellen und die Arbeiter anständig zu ernähren.

Dies die extremen Zustände bei uns selbst. In Deutschland sind sie noch extremer. Aber es gibt Länder in Europa, welche von den Plagen, an die wir schon gewöhnt sind, nicht annähernd so sehr heimgesucht werden wie das unsere. Auch dort - Frankreich vielleicht ausgenommen — stockt das Kulturelle, versumpft, wird verfälscht und versandet schließlich. Wir können keinen Einfluß auf die Kultur anderer Länder üben, - daß unsere kulturellen Leistungen unvergleichlich größer wären, wenn sie auf besseren materiellen Grundlagen stünden , ist nicht zu bezweiteln. Aber der Mangel auf allen wirtschaftlichen Gebieten unterbindet jede Aktualität unseres geistigen Lebens. Man schlage eine Zeitschrift auf, und man wird finden, daß dort Probleme, die vor einem halben oder einem ganzen Jahr brennend gewesen sind, jetzt erst besprochen werden, man blättere eine Broschüre an, und sie rennt Türen ein, die längst aufgesprungen sind; Raummangel oder die Schwerfälligkeit der Druckereien verzögern alles, alles hinkt nach. Unsere gesamten Zeitschriften führen ihren Namen völlig zu Unrecht, es gibt keines ihrer Hefte, das wirklich „zur Zeit" erschiene, das Juli-Heft erscheint im Oktober, das Oktober-Heft im Dezember. Gewiß, die Schwierigkeiten sind groß; aber die Saumseligkeit, der Mangel an Verantwortlichkeit gegen die Ansprüche kultureller Aktualität ist noch größer. Luthers gegen Erasmus gerichtete Schrift „De servo arbitrio", ein Band von 400 Seiten, ist binnen vier Monaten geschrieben und getruckt worden, Erasmus' „Novum Testamentum, graece", ein Foliant in griechischer, lateinischer und hebräischer Sprache, binnen fünf Monaten. Dies zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts. In den Jahren 1922 bis 1923 war die Indolenz schon so weit gediehen, daß der Insel-Verlag, um die tausend Verse der Duineser Elegien zu drucken, 14 Monate brauchte. Und jetzt?

Es besagt nichts, daß bei uns, trotz allem, intensives Kulturleben zu herrschen scheint. Denn in Wahrheit: es scheint nur so. In den meisten der Länder, dessen Heere uns besetzt halten, ist das Leben so wenig abwechslungsreich, daß man bei uns nur zum hundertsten Male Bruckner, zum fünfhundertsten Male Mozart und zum tausendsten Male Lehar zu spielen braucht, um die Welt glauben zu lassen, es gehe etwas vor sich. Aber was vor sich geht, ist dreißig bis hundertfünfzig Jahre alt. Eine Flut von Zeitschriften hat sich über uns ergossen. Aber sie werden nur gelesen, weil wenig oder keine Bücher erscheinen. Die meisten von ihnen beginnen mit Beiträgen von Hofmannsthal und Trakl und enden mit dem dritten Heft. In den Büchern, die hin und wieder doch herauskommen, schreien die Druckfehler zum Himmel, dafür blüht, im Mühlviertel, die pornographische Literatur. Es gibt zahllose kulturelle Veranstaltungen, Tagungen, Reden, Feiern, Kongresse. Wo aber sind die wirklichen Leistungen, die Werke, über die gesprochen, getagt, geredet wird? Sie verstauben bei den Verlagen. Die Theater spielen den Ausschuß der letzten vierzig Jahre. Wo sind die neuen Stücke?

Diese Krise ist keine geistige. Sie ist eine materielle. Die Welt ist in Unordnung, sie ist ein Chaos, aber vom Geistigen ist sie nicht zu heilen. Das wirklich Geistige kommt aus den allermateriellsten, allersimpelsten, allerbanalsten Gründen einfach nicht mehr zu Wort. Wir sehen uns in dem lächerlichen, offenbar einzig unserem Jahrhundert vorbehaltenen Falle, daß auch unsere Kultur nur mehr vom Primitivsten, vom Materiellsten her zu retten ist. Und die Heilung wird, zuletzt, alla turca erfolgen. Wenn die Menschheit endlich aufhören wird, an sich selbst zu doktern, wird sie gesunden.