Alexander Lernet-Holenia

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Hilde Spiel

Eine vielschichtige Figur, Die Bilder, Herkunft und Ursprung

(Aus dem Buch "Alexander Lernet-Holenia: Die Lust an der Ungleichzeitigkeit", erschienen bei Zsolnay, Wien; Veröffentlichung im Internet mit freundlicher Genehmigung des Zsolnay-Verlages)

Wären sie nicht, die kalendarischen Einschnitte, die künstlichen Zäsuren, man gäbe sich zu selten Rechenschaft über eine schöpferische Existenz. Alexander Lernet-Holenia, der morgen das Ende seines siebenten Jahrzehntes erreicht, hätte sich dennoch am liebsten in das nächste davongestohlen, im Zuge einer jener heimlichen Zustandsveränderungen, die ein Teil seiner Vorstellungswelt sind. Er feiert seine Feste am liebsten heimlich, unbeobachtet, jeder Gravitas abhold, wie sie etwa der "berühmte Mann" in Hofmannsthals "Schwierigem" so erheiternd exemplifiziert.
Weit eher gleicht er dem "Schwierigen" selber, der ein österreichischer Prototyp ist, im eigenen Urheber enthalten und vordem in Grillparzer, Raimund, Stifter, auch Schubert, in den Begabtesten dieses Landes schlechthin. Daß Lernet-Holenia eben jenes Stück ablehnt - weil Hofmannsthal die darin konterfeite Schicht verzeichnet habe -, spricht nur noch mehr für seine innere Affinität mit dessen Hauptfigur. Keinem Dichter seiner Zeit eignet wie ihm der Hang zu Rösselsprüngen, Krebsgängen, absichtlichen Irr- und Umwegen zum längst erkannten Ziel. Obgleich sein Werk verschlüsselte Hinweise aufseine eigene komplexe und hintergründige Natur enthält, verwischt er im übrigen alle Spuren. Sein Schreibtisch ist immer nackt, jede Andeutung einer dort ausgeübten Tätigkeit wird sogleich entfernt, und obschon er an ihn gerichtete Briefe liest und nicht, gleich jenem jungen Mann im Roman "Beide Sizilien", uneröffnet in ein nur zu diesem Zweck gemietetes Hotelzimmer wirft, so vernichtet und beseitigt er sie doch hinterher, als wäre alles Geschriebene ihm von Übel. Ja, er hat als junger Mensch sogar ein Bündel Briefe von der Hand Rilkes im Kamin verbrannt, weil ihn allzu zahlreich veröffentlichte Epistel derselben Herkunft ärgerten oder schmerzten.
Die beiden Namen, denen der seine sich natürlich anreiht, sind gefallen. Dem Bannkreis Rilkes und Hofmannsthals gehört der Spätgeborene an; und bringt er auch der Gegenwart eine mehr oder weniger gelassene Duldung entgegen, so wirkt er neben seinen Landsleuten Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Peter Handke doch fraglos demodiert. Aber was ist Mode ? Das Zeitgebundene. Lernet-Holenia, dessen Lebenswerk sich auf den unterschiedlichsten Ebenen bewegt, hat Prosa und Lyrik geschaffen, die ruhig vertragen kann, eine ganze Weile übersehen oder gar mißachtet zu bleiben, weil sie immer wiederentdeckt werden muß.
Jene beiden Vorgänger hatten ihn gleichsam noch an der Hand in die Literatur eingeführt - Rilke, der 1921 an seine Fürstin schrieb, Lernets erster Gedichtband "Kanzonnair" sei "oft herrlich, weit über die Erwartung hinaus", und Hofmannsthal, der von ihm sagte : "Lernet kann alles, was er will." In der Tat hätte sein Schaffen an Umfang und Variabilität für fünfDichterexistenzen ausgereicht. In seiner Lyrik überragt er turmhoch den Dramatiker und Romancier, läßt auch im Grunde nur gelten, was er in gebundener Rede hervorgebracht hat. Es gibt von ihm in den Sammlungen "Die goldene Horde" (1935), "Die Trophae" (1946) und "Das Feuer" (1949) antikisierende, romantische, mythische, heraldische, bukolische Gedichte von einer kristallenen Klarheit. Seine Prosa enthält immer eine stilisierte Wirklichkeit, wenngleich er in seinen Beschreibungen alter Häuser und gewaltiger Heerscharen, Straßenbilder und Waldgegenden packend anschaulich ist. Es bestehen große Niveauunterschiede zwischen einer Meisternovelle wie "Der Baron Bagge" (1936), vollendeten Romanen wie "Beide Sizilien" (1942) und "Der Graf Luna" (1955) oder seiner berühmten "Standarte" (1934) und jenen mondänen Etüden, die in den Illustrierten der dreißiger Jahre erschienen und der Dame wohlgefielen, welche "Die Dame" las. Für die Bühne schließlich hat er Versdramen gleich denen Hofmannsthals hervorgebracht. Allenthalben aber, ob profund oder spielerisch seicht, bleibt seine Diktion eigenwillig und unverwechselbar.
Lernet-Holenias Linie ist die paradoxe eines rebellischen Konservativen. Er liebt das Vergangene noch mehr als das Bestehende, lehnt sich aber unaufhörlich gegen die Sachwalter beider Lebenszustände auf. In einer kurzen Selbstbiographie, einem Beitrag zum Buche "Jahrgang 1897" (Hoffmann & Campe), beschreibt er das 1902 gebaute Landhaus, in dem er aufgewachsen ist. Es ist heute noch, wie seine Nachbarin bestätigen kann, durchaus unverändert - im Erker liegen dieselben vergilbten Atlanten auf dem runden Tische, von großen Holzringen hängen dieselben geblümten Vorhänge herab. Durch seine Mutter mit dem gesamten Kärntner Adel verschwägert, kam er als Sohn des Marineleutnants Lernet zur Welt. Legenden, die um seine Geburt gerankt sind, hat er niemals bestätigt, obschon in seinem Roman "Die Inseln unter dem Winde" auf verkappte Weise genährt. Die darin enthaltene Nebenfigur einer Baronin Leerodt, die sich einem Seeoffizier vermählt, um das Kind eines Malteserritters habsburgischer Abstammung ehelich zu machen, schlägt das Thema der unsicheren Vaterschaft an. Fragwürdigkeit und Vertauschbarkeit jeder Identität sind seine immer wiederkehrenden Motive : Fast in jedem seiner Romane tauchen sie auf.
Das Erlebnis des ersten Krieges prägte seineJugend. An der russischen Front erfuhr er den Untergang des Habsburgerreiches, das ihm als eine vielfältige, prächtige und bunte Wohnstatt erschienen war. Seine Welt trug fortan die Züge nicht der jungen Republik mit ihren Wirren und Nöten, sondern der alten Monarchie. Es ist eine Welt der stillen großen Räume des Landadels, in denen die Sonne durch herabgelassene Jalousien auf Kirschholzmöbel scheint, vor dem Haus die bemooste Gartenmauer, der verwaschene Stein-Neptun, die silbrige Fontäne, eine Welt der grüngoldenen Salons, aber auch der blutigen Schlachtfelder, auf denen die starren, reichbestickten Embleme des versunkenen Reiches blitzen. Immer melden sich in ihr Ängste einer vielleicht allzu behüteten und darum um so empfindsameren Kindheit an vor finsteren Gängen und leeren Vorgemächern, in denen man umherirrt und sich vor dem Entdecktwerden schützt: im Belgrader Königsschloß der "Standarte", im Dachboden des Kiewer Gouverneurgebäudes in "Ljubas Zobel", in den römischen Katakomben des "Grafen Luna". Und immer gerät man aus dieser Welt hinaus in den Raum zwischen Leben und Tod, aufjenen Waldweg, der sich ins Nichtsein verliert.
In all den großen Exkursen, den dichterischen Einsprengseln, die auch Lernet-Holenias Unterhaltungsromane unterbrechen, tritt er aus irgendeiner lässig und nonchalant beschriebenen Situation plötzlich vor das Gesicht der Ewigkeit - wie im "Grafen von St. Germain" anläßlich einer ersten Behandlung des Pilatus-Komplexes - oder verliert sich in Visionen, einer kosmischen in "Beide Sizilien", einer allegorischen in "Mars im Widder". Dieses Buch, nach seiner Teilnahme am Polenfeldzug des Jahres 1939 verfaßt, bezeichnet seine Abkehr von jeglicher Kriegsromantik und seinen Triumph über das Trauma des Ersten Weltkriegs. Mit der Besudelung einer Idee, die ihm heilig gewesen war, der Idee des alten Römischen Reiches Deutscher Nation, rechnete er 1946 in seinem tiefen und formvollendeten Gedicht "Germanien" ab. Wenn er in den letzten zwei Jahrzehnten zuweilen seine Privatpolemiken - mit dem österreichischen Adel, den letzten Erben des Hauses Habsburg, den Wiener Finanzbehörden - in den literarischen Bereich übertrug, so sind dies verzeihliche Launen einer vielschichtigen Persönlichkeit. Man muß die Bedeutung dieses Dichters an seinen schönsten Werken messen, an seinem Brief des Oberleutnants Silverstolpe in "Beide Sizilien", der sich mit Hofmannsthals Chandos-Brief vergleichen läßt, an Gedichten wie seinem "Lazarus", seinen "Fragmenten aus verlorenen Sommern", seinem "Dreikönigszug", seiner Nänie "Die Abreise" und schließlich seinem Hymnus "An Christus", in dem er den trotzigen Prometheus-Ruf ausstößt:

Denn keine Unsterblichen gibt es,
als unseresgleichen. Großes haben
zwar
die Heroen getan,
Größres die Götter,
das Größeste aber
die Menschen.

(20. Oktober 1967)

Die Bilder, Herkunft und Ursprung

Die Bilder

Du über dem Spieltisch, über den silbernen
Leuchtern; du Halbversteckter im Schatten des Vorhangs; du
Schöne, nahe der Uhr; du im weißen
Rocke! Herkunft und Ursprung! Verwandte! Ihr meines Vaters
Väter, ihr Männer der Mütter! Ihr Hundert (und mehr)-
jähr’ge als Jünglinge, ihr um Jahrhunderte älter als Alte!
Bin ich denn wirklich, was ihr einst wart? Seid denn ihr, was
ich bin, gewesen? Ich zwar, ich such' euch
noch mit den Blicken, mich selbst such ich in euch. Aber ihr, auf
wen denn blickt ihr im Saale umher? Nicht auf mich. Ach, vorbei
seid ihr und blickt mir vorüber. Näher als ich bin, der Garten
ist's euch, auf welchen ihr blickt, wenn er im Mittag ertönt.
Näher als ihr ist der Atem des Tags mir, ist mir der Himmel,
ist mir der Schatten des Lichts, das flüsternde Laub und der Ruf ist
eines Vogels mir näher, die Wiese beinahe mir Herkunft,
Herkunft ist mir das Weh'n, das den Garten bewegt.
All die Wurzeln des Grases, sie sind mir Ursprung, des Bodens
Feuchte, der Sommerregen, die Blüte des Schneeballs,
all die zögernde Zeit des Lebens, alle die Stunden,
die erst, wenn an nicht mehr glaubt, sie vergingen, vergehn....

Man hört ihn heraus, den Ton, man sieht sie vor sich, die wechselnd langen, hinübergezogenen Zeilen, die Alexander Lernet-Holenia von seinem großen Vorbild übernahm. Wie er sich in der Prosa, deren Bogen sich von der profunden Reflexion bis zur seichten Romanze spannt, an Kleist geschult hat, so in der Lyrik als junger Mann an Rilke, dann nur noch an Hölderlin. Aber ist nicht für den, der in seinen Versen nach erhabener Form strebt, nach antikischer Entrückung, Hölderlin die höchste Stufe, die letzte Mündung, die man erreichen kann? So klingt Lernet-Holenias Gedicht »Die Bilder«, enthalten in dem Band » Die Trophäe«, etwa an jene zweite Fassung des » Mnemosyne« an, in der es heißt: »Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben / Den Firnen. Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo / Mit diesen.« Nicht anders spricht Alexander Lernet-Holenia vom »flüsternden Laub« und dem » Weh'n, das den Garten bewegt«, nicht anders stockt er am Ende einer Zeile unvermittelt im Satz, um ihn erst im nächsten Atemzug zu beenden: »und der Ruf ist / eines Vogels mir näher«. Gewiß aber hat er nicht diese oder jene Stelle Hölderlins nachempfunden, sondern sich die ganze Welt dessen lyrischer Sprache zu eigen gemacht. Er schrieb diese Verse in einer bewegten Zeit, vermutlich nicht lange vor oder nach dem Ende des Krieges. Dennoch zeugen sie von der Distanz, in der Lernet-Holenia zu seiner Gegenwart stand. Es war großjährig geworden, als die Habsburgermonarchie zerfiel. Danach blieb er der Vergangenheit zugewandt, spürte ihr nach und denen, die vor ihm gewesen waren, suchte gleich Hamlet »beständig mit gesenkten Wimpern nach seinem edlen Vater in dem Staub«. Sein Vater war das österreichische Kaiserreich, das vor seinen Augen mit blutigen Bannern und geborstenen Emblemen in den Staub gesunken war, und dies um so mehr, als sein wirklicher Vater im Zwielicht lag - entweder der Marineleutnant Lernet war, der am Tage der Hochzeit seine Frau und den ungeborenen Sohn verlassen hatte, oder ein geheimnisumwitterter Fremder, dessen Identität sich ihm niemals mit Gewißheit erschloß. Herkunft und Ursprung: nichts anderes hat ihn zeitlebens bewegt, kein Thema ihn so gefangengehalten wie das seines Ausgangs, des Erbes seiner Altvordern im eigenen Geist und Leib. In seinem Landhaus wie in den hohen und verwitterten Räumen seiner Stadtwohnung in der Hofburg war er umgeben von Ahnenbildern, und immer hängen sie dort noch an den Wänden, von denen er in diesen Versen spricht. Die »Schöne nahe der Uhr«, eine Dame mit weißgepuderter Frisur und zobelverbrämter Robe. Der »Halbversteckte im Schatten des Vorhangs«: ein Husar im pflaumenfarbigen Waffenkleid. Sie sind alle Vorfahren der Mutter, die - wie Rilke es sich nur wünschte - mit dem gesamten kärntnerischen Adel verwandt und verschwägert war. Nur der »im weißen Rocke« ist ein Lernetscher Stammherr, doch ebensowenig wie die mütterlichen Holenias blickt er den zweifelhaften Nachkommen an.

In diesem Gedicht ist Lernet-Holenias ganze vergebliche Sehnsucht nach den Ahnen enthalten, sein Schmerz über ihre Verweigerung und sein Trotz, der ihn die wahre Herkunft im Wind, den wahren Ursprung in den Wurzeln des Grases, der Feuchte des Bodens suchen läßt. In den zwei letzten Zeilen aber hat er prophetisch sein eigenes Ende vorweggenommen, das ihn nach vielen Jahrzehnten eines gleichförmigen, zögernd vergehenden Lebens plötzlich mit aller Schnelle aus dem Dasein riß.