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Alexander Lernet-Holenia

Hilde Spiel

Eine vielschichtige Figur, Die Bilder, Herkunft und Ursprung

(Aus dem Buch "Alexander Lernet-Holenia: Die Lust an der Ungleichzeitigkeit", erschienen bei Zsolnay, Wien; Veröffentlichung im Internet mit freundlicher Genehmigung des Zsolnay-Verlages)

Wären sie nicht, die kalendarischen Einschnitte, die künstlichen Zäsuren, man gäbe sich zu selten Rechenschaft über eine schöpferische Existenz. Alexander Lernet-Holenia, der morgen das Ende seines siebenten Jahrzehntes erreicht, hätte sich dennoch am liebsten in das nächste davongestohlen, im Zuge einer jener heimlichen Zustandsveränderungen, die ein Teil seiner Vorstellungswelt sind. Er feiert seine Feste am liebsten heimlich, unbeobachtet, jeder Gravitas abhold, wie sie etwa der "berühmte Mann" in Hofmannsthals "Schwierigem" so erheiternd exemplifiziert.
Weit eher gleicht er dem "Schwierigen" selber, der ein österreichischer Prototyp ist, im eigenen Urheber enthalten und vordem in Grillparzer, Raimund, Stifter, auch Schubert, in den Begabtesten dieses Landes schlechthin. Daß Lernet-Holenia eben jenes Stück ablehnt - weil Hofmannsthal die darin konterfeite Schicht verzeichnet habe -, spricht nur noch mehr für seine innere Affinität mit dessen Hauptfigur. Keinem Dichter seiner Zeit eignet wie ihm der Hang zu Rösselsprüngen, Krebsgängen, absichtlichen Irr- und Umwegen zum längst erkannten Ziel. Obgleich sein Werk verschlüsselte Hinweise aufseine eigene komplexe und hintergründige Natur enthält, verwischt er im übrigen alle Spuren. Sein Schreibtisch ist immer nackt, jede Andeutung einer dort ausgeübten Tätigkeit wird sogleich entfernt, und obschon er an ihn gerichtete Briefe liest und nicht, gleich jenem jungen Mann im Roman "Beide Sizilien", uneröffnet in ein nur zu diesem Zweck gemietetes Hotelzimmer wirft, so vernichtet und beseitigt er sie doch hinterher, als wäre alles Geschriebene ihm von Übel. Ja, er hat als junger Mensch sogar ein Bündel Briefe von der Hand Rilkes im Kamin verbrannt, weil ihn allzu zahlreich veröffentlichte Epistel derselben Herkunft ärgerten oder schmerzten.
Die beiden Namen, denen der seine sich natürlich anreiht, sind gefallen. Dem Bannkreis Rilkes und Hofmannsthals gehört der Spätgeborene an; und bringt er auch der Gegenwart eine mehr oder weniger gelassene Duldung entgegen, so wirkt er neben seinen Landsleuten Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Peter Handke doch fraglos demodiert. Aber was ist Mode ? Das Zeitgebundene. Lernet-Holenia, dessen Lebenswerk sich auf den unterschiedlichsten Ebenen bewegt, hat Prosa und Lyrik geschaffen, die ruhig vertragen kann, eine ganze Weile übersehen oder gar mißachtet zu bleiben, weil sie immer wiederentdeckt werden muß.
Jene beiden Vorgänger hatten ihn gleichsam noch an der Hand in die Literatur eingeführt - Rilke, der 1921 an seine Fürstin schrieb, Lernets erster Gedichtband "Kanzonnair" sei "oft herrlich, weit über die Erwartung hinaus", und Hofmannsthal, der von ihm sagte : "Lernet kann alles, was er will." In der Tat hätte sein Schaffen an Umfang und Variabilität für fünfDichterexistenzen ausgereicht. In seiner Lyrik überragt er turmhoch den Dramatiker und Romancier, läßt auch im Grunde nur gelten, was er in gebundener Rede hervorgebracht hat. Es gibt von ihm in den Sammlungen "Die goldene Horde" (1935), "Die Trophae" (1946) und "Das Feuer" (1949) antikisierende, romantische, mythische, heraldische, bukolische Gedichte von einer kristallenen Klarheit. Seine Prosa enthält immer eine stilisierte Wirklichkeit, wenngleich er in seinen Beschreibungen alter Häuser und gewaltiger Heerscharen, Straßenbilder und Waldgegenden packend anschaulich ist. Es bestehen große Niveauunterschiede zwischen einer Meisternovelle wie "Der Baron Bagge" (1936), vollendeten Romanen wie "Beide Sizilien" (1942) und "Der Graf Luna" (1955) oder seiner berühmten "Standarte" (1934) und jenen mondänen Etüden, die in den Illustrierten der dreißiger Jahre erschienen und der Dame wohlgefielen, welche "Die Dame" las. Für die Bühne schließlich hat er Versdramen gleich denen Hofmannsthals hervorgebracht. Allenthalben aber, ob profund oder spielerisch seicht, bleibt seine Diktion eigenwillig und unverwechselbar.
Lernet-Holenias Linie ist die paradoxe eines rebellischen Konservativen. Er liebt das Vergangene noch mehr als das Bestehende, lehnt sich aber unaufhörlich gegen die Sachwalter beider Lebenszustände auf. In einer kurzen Selbstbiographie, einem Beitrag zum Buche "Jahrgang 1897" (Hoffmann & Campe), beschreibt er das 1902 gebaute Landhaus, in dem er aufgewachsen ist. Es ist heute noch, wie seine Nachbarin bestätigen kann, durchaus unverändert - im Erker liegen dieselben vergilbten Atlanten auf dem runden Tische, von großen Holzringen hängen dieselben geblümten Vorhänge herab. Durch seine Mutter mit dem gesamten Kärntner Adel verschwägert, kam er als Sohn des Marineleutnants Lernet zur Welt. Legenden, die um seine Geburt gerankt sind, hat er niemals bestätigt, obschon in seinem Roman "Die Inseln unter dem Winde" auf verkappte Weise genährt. Die darin enthaltene Nebenfigur einer Baronin Leerodt, die sich einem Seeoffizier vermählt, um das Kind eines Malteserritters habsburgischer Abstammung ehelich zu machen, schlägt das Thema der unsicheren Vaterschaft an. Fragwürdigkeit und Vertauschbarkeit jeder Identität sind seine immer wiederkehrenden Motive : Fast in jedem seiner Romane tauchen sie auf.
Das Erlebnis des ersten Krieges prägte seineJugend. An der russischen Front erfuhr er den Untergang des Habsburgerreiches, das ihm als eine vielfältige, prächtige und bunte Wohnstatt erschienen war. Seine Welt trug fortan die Züge nicht der jungen Republik mit ihren Wirren und Nöten, sondern der alten Monarchie. Es ist eine Welt der stillen großen Räume des Landadels, in denen die Sonne durch herabgelassene Jalousien auf Kirschholzmöbel scheint, vor dem Haus die bemooste Gartenmauer, der verwaschene Stein-Neptun, die silbrige Fontäne, eine Welt der grüngoldenen Salons, aber auch der blutigen Schlachtfelder, auf denen die starren, reichbestickten Embleme des versunkenen Reiches blitzen. Immer melden sich in ihr Ängste einer vielleicht allzu behüteten und darum um so empfindsameren Kindheit an vor finsteren Gängen und leeren Vorgemächern, in denen man umherirrt und sich vor dem Entdecktwerden schützt: im Belgrader Königsschloß der "Standarte", im Dachboden des Kiewer Gouverneurgebäudes in "Ljubas Zobel", in den römischen Katakomben des "Grafen Luna". Und immer gerät man aus dieser Welt hinaus in den Raum zwischen Leben und Tod, aufjenen Waldweg, der sich ins Nichtsein verliert.
In all den großen Exkursen, den dichterischen Einsprengseln, die auch Lernet-Holenias Unterhaltungsromane unterbrechen, tritt er aus irgendeiner lässig und nonchalant beschriebenen Situation plötzlich vor das Gesicht der Ewigkeit - wie im "Grafen von St. Germain" anläßlich einer ersten Behandlung des Pilatus-Komplexes - oder verliert sich in Visionen, einer kosmischen in "Beide Sizilien", einer allegorischen in "Mars im Widder". Dieses Buch, nach seiner Teilnahme am Polenfeldzug des Jahres 1939 verfaßt, bezeichnet seine Abkehr von jeglicher Kriegsromantik und seinen Triumph über das Trauma des Ersten Weltkriegs. Mit der Besudelung einer Idee, die ihm heilig gewesen war, der Idee des alten Römischen Reiches Deutscher Nation, rechnete er 1946 in seinem tiefen und formvollendeten Gedicht "Germanien" ab. Wenn er in den letzten zwei Jahrzehnten zuweilen seine Privatpolemiken - mit dem österreichischen Adel, den letzten Erben des Hauses Habsburg, den Wiener Finanzbehörden - in den literarischen Bereich übertrug, so sind dies verzeihliche Launen einer vielschichtigen Persönlichkeit. Man muß die Bedeutung dieses Dichters an seinen schönsten Werken messen, an seinem Brief des Oberleutnants Silverstolpe in "Beide Sizilien", der sich mit Hofmannsthals Chandos-Brief vergleichen läßt, an Gedichten wie seinem "Lazarus", seinen "Fragmenten aus verlorenen Sommern", seinem "Dreikönigszug", seiner Nänie "Die Abreise" und schließlich seinem Hymnus "An Christus", in dem er den trotzigen Prometheus-Ruf ausstößt:

Denn keine Unsterblichen gibt es,
als unseresgleichen. Großes haben
zwar
die Heroen getan,
Größres die Götter,
das Größeste aber
die Menschen.

(20. Oktober 1967)

Die Bilder, Herkunft und Ursprung

Die Bilder

Du über dem Spieltisch, über den silbernen
Leuchtern; du Halbversteckter im Schatten des Vorhangs; du
Schöne, nahe der Uhr; du im weißen
Rocke! Herkunft und Ursprung! Verwandte! Ihr meines Vaters
Väter, ihr Männer der Mütter! Ihr Hundert (und mehr)-
jähr’ge als Jünglinge, ihr um Jahrhunderte älter als Alte!
Bin ich denn wirklich, was ihr einst wart? Seid denn ihr, was
ich bin, gewesen? Ich zwar, ich such' euch
noch mit den Blicken, mich selbst such ich in euch. Aber ihr, auf
wen denn blickt ihr im Saale umher? Nicht auf mich. Ach, vorbei
seid ihr und blickt mir vorüber. Näher als ich bin, der Garten
ist's euch, auf welchen ihr blickt, wenn er im Mittag ertönt.
Näher als ihr ist der Atem des Tags mir, ist mir der Himmel,
ist mir der Schatten des Lichts, das flüsternde Laub und der Ruf ist
eines Vogels mir näher, die Wiese beinahe mir Herkunft,
Herkunft ist mir das Weh'n, das den Garten bewegt.
All die Wurzeln des Grases, sie sind mir Ursprung, des Bodens
Feuchte, der Sommerregen, die Blüte des Schneeballs,
all die zögernde Zeit des Lebens, alle die Stunden,
die erst, wenn an nicht mehr glaubt, sie vergingen, vergehn....

Man hört ihn heraus, den Ton, man sieht sie vor sich, die wechselnd langen, hinübergezogenen Zeilen, die Alexander Lernet-Holenia von seinem großen Vorbild übernahm. Wie er sich in der Prosa, deren Bogen sich von der profunden Reflexion bis zur seichten Romanze spannt, an Kleist geschult hat, so in der Lyrik als junger Mann an Rilke, dann nur noch an Hölderlin. Aber ist nicht für den, der in seinen Versen nach erhabener Form strebt, nach antikischer Entrückung, Hölderlin die höchste Stufe, die letzte Mündung, die man erreichen kann? So klingt Lernet-Holenias Gedicht »Die Bilder«, enthalten in dem Band » Die Trophäe«, etwa an jene zweite Fassung des » Mnemosyne« an, in der es heißt: »Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben / Den Firnen. Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo / Mit diesen.« Nicht anders spricht Alexander Lernet-Holenia vom »flüsternden Laub« und dem » Weh'n, das den Garten bewegt«, nicht anders stockt er am Ende einer Zeile unvermittelt im Satz, um ihn erst im nächsten Atemzug zu beenden: »und der Ruf ist / eines Vogels mir näher«. Gewiß aber hat er nicht diese oder jene Stelle Hölderlins nachempfunden, sondern sich die ganze Welt dessen lyrischer Sprache zu eigen gemacht. Er schrieb diese Verse in einer bewegten Zeit, vermutlich nicht lange vor oder nach dem Ende des Krieges. Dennoch zeugen sie von der Distanz, in der Lernet-Holenia zu seiner Gegenwart stand. Es war großjährig geworden, als die Habsburgermonarchie zerfiel. Danach blieb er der Vergangenheit zugewandt, spürte ihr nach und denen, die vor ihm gewesen waren, suchte gleich Hamlet »beständig mit gesenkten Wimpern nach seinem edlen Vater in dem Staub«. Sein Vater war das österreichische Kaiserreich, das vor seinen Augen mit blutigen Bannern und geborstenen Emblemen in den Staub gesunken war, und dies um so mehr, als sein wirklicher Vater im Zwielicht lag - entweder der Marineleutnant Lernet war, der am Tage der Hochzeit seine Frau und den ungeborenen Sohn verlassen hatte, oder ein geheimnisumwitterter Fremder, dessen Identität sich ihm niemals mit Gewißheit erschloß. Herkunft und Ursprung: nichts anderes hat ihn zeitlebens bewegt, kein Thema ihn so gefangengehalten wie das seines Ausgangs, des Erbes seiner Altvordern im eigenen Geist und Leib. In seinem Landhaus wie in den hohen und verwitterten Räumen seiner Stadtwohnung in der Hofburg war er umgeben von Ahnenbildern, und immer hängen sie dort noch an den Wänden, von denen er in diesen Versen spricht. Die »Schöne nahe der Uhr«, eine Dame mit weißgepuderter Frisur und zobelverbrämter Robe. Der »Halbversteckte im Schatten des Vorhangs«: ein Husar im pflaumenfarbigen Waffenkleid. Sie sind alle Vorfahren der Mutter, die - wie Rilke es sich nur wünschte - mit dem gesamten kärntnerischen Adel verwandt und verschwägert war. Nur der »im weißen Rocke« ist ein Lernetscher Stammherr, doch ebensowenig wie die mütterlichen Holenias blickt er den zweifelhaften Nachkommen an.

In diesem Gedicht ist Lernet-Holenias ganze vergebliche Sehnsucht nach den Ahnen enthalten, sein Schmerz über ihre Verweigerung und sein Trotz, der ihn die wahre Herkunft im Wind, den wahren Ursprung in den Wurzeln des Grases, der Feuchte des Bodens suchen läßt. In den zwei letzten Zeilen aber hat er prophetisch sein eigenes Ende vorweggenommen, das ihn nach vielen Jahrzehnten eines gleichförmigen, zögernd vergehenden Lebens plötzlich mit aller Schnelle aus dem Dasein riß.

Nachwort zu "Der Baron Bagge" von Hilde Spiel

Spiel, Hilde: Nachwort. In: Alexander Lernet-Holenia: Der Baron Bagge. Frankfurt a.M.: Fischer 1978, S. 103-115.
Hätte Alexander Lernet-Holenia nur Lyrik geschrieben oder seinen eigenen höchsten Ansprüchen an die Prosa genügt, ein Platz im Pantheon der großen Geister wäre ihm sicher gewesen. Wer allzu vielseitig begabt ist, steht sich selbst im Licht. Er wird nicht immer an dem Maß seiner vollendeten Werke gemessen, sondern von der schnöden Welt nach dem beurteilt oder gar abgeurteilt, was er manchmal bedenkenlos, manchmal notgedrungen den Forderungen des Tages geopfert hat. Dieser Schriftsteller, nein, Dichter Lernet-Holenia hat sich, von der edelsten Elegik und Dithyrambik bis zu den leichtesten und seichtesten Abenteuer- und Schelmenromanen, jeder literarischen Form bedient. Anders als Rilke oder Hofmannsthal, mit denen ihn mehr verband als mit irgendeinem seiner eigenen Generationsgenossen, hat er nie, oder nur selten, mit dem Seitenblick auf den olympischen Lorbeer geschrieben oder sich etwa frivoler, bizarrer und parfümierter Einfälle begeben, weil sie das Gesamtbild seiner künstlerischen Persönlichkeit hätten beeinträchtigen können. So hat er das Monument, das seinen schönsten Hervorbringungen, den Gedichtbänden "Die goldene Horde", "Die Trophäe" und "Das Feuer", so makellosen Novellen wie dem "Baron Bagge", so wohlgebauten und profunden Romanen wie "Die Standarte", "Beide Sizilien" und "Mars im Widder" gebührt, selbst immer wieder vom Sockel gerissen.

Es verdient, neu aufgerichtet zu werden. Denn noch in den Augenblicken eines Leerlaufs seiner Inspiration, noch in seinen Irrwegen im Labyrinth des Wiener Gesellschaftsklatsches oder seinen Windmühlenkämpfen gegen den Fiskus und eine erlauchte Familie, der er selbst nicht ferngestanden haben mag, bekundet sich jene vorbildliche Sprache, die er seinen Lehrmeistern, den Romantikern, und dem großen Vorbild Kleist verdankte, schimmert immer noch ein Abglanz der erhabenen Region, in der er in Wahrheit daheim war und die er seinen Lesern immer wieder nahegebracht hat. In der Rücksichtslosigkeit, ja Unerbittlichkeit, mit der ein Dichter seine eigene, selbstgeschaffene Welt, mit all ihren schiefen und verzerrten Perspektiven, ihren Trugschlüssen und Idiosynkrasien, aber auch ihren weitläufigen Prospekten, nie zuvor gesehenen Farben, unerhörten Tönen und neuartigen Aussichtspunkten ins Jenseits, auf die greifbare und alltägliche Realität kopiert wie ein kräftiges Bild auf ein blasses, liegt die Macht seiner Genialität. In Lernet-Holenias "Auferstehung des Maltravers", einem ungleichmäßigen, aber durch erstaunliche Ausflüge ins Metaphysische geadelten Buche, steht der Satz: "Es gibt kein Kunstwerk, das nicht eine ganze Welt in sich enthielte - und wahrscheinlich eine wirklichere, als die wirkliche Welt es ist."

Freilich ist dieses Reich, wie der Traum von den Resten und Fragmenten des Wachens, nur von dem bevölkert, was vorerst der Wirklichkeit entlehnt worden ist. Doch die Imagination des Dichters setzt sich, ganz wie Traum, über alle Grenzen des Ortes und der Zeit hinweg, reicht tief in die Vergangenheit hinab, wandert auf eins, zwei in die exotischesten Länder und schlägt Brücken über den Styx, so daß die Toten mit den Lebenden zwanglos bei Tische sitzen, als gäbe es in der Tat nur ein einziges ungeteiltes Sein.

Lernet-Holenias Welt ist ohne Mühe auf seine Herkunft und Umwelt zurückzuführen. Er wurde in der österreichischen Provinz Kärnten geboren, als Sohn der zweiten Ehe der verwitweten Baronin Boyneburgk mit dem Marineoffizier Lernet, der sogleich wieder ins Dunkel verschwand, worauf sein Kind von der mütterlichen Familie adoptiert wurde und deren Nachnamen Holenia zu dem väterlichen fügte. Solch ungewöhnlicher Lebensbeginn berechtigte den Dichter mehr als manchen anderen zu jenen, der Tiefenpsychologie bekannten Phantasien über eine etwaige Verwechselung in der Wiege oder höhere Herleitung als die tatsächliche, denen Adoleszente zuweilen nachzuhängen pflegen. Seine Geburt ist in der Tat von Gerüchten umwittert, und wenn er diesen auch nicht Vorschub leistete, so hat er sie doch in seiner Lyrik, auch in diesem oder jenem Roman, nicht ganz unabsichtlich genährt.

Zur Patrizieratmosphäre Kärntens, mit dessen Adel er - wie Rilke es sich nur ersehnte - vielfach verwandt und verschwägert war, kam die sanftere und liebliche Landschaft des Salzkammerguts, in der seine Mutter bald nach seiner Geburt ein Anwesen erwarb. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, rückte Lernet-Holenia, blutjung, zu den Dragonern ein und erlebte schließlich an der russischen Front den Untergang des Habsburgerreiches, das er als eine vielfältige, prächtige und bunte, zugleich aber auch unendlich behagliche Wohnstatt geliebt hatte und dessen Zusammenbruch er überaus schmerzlich empfand. In den verzweifelten letzten Monaten der Monarchie, die Jahrhunderte gewährt hatte und jetzt vor seinen Augen versank, prägte sich dem Fähnrich nicht nur die Schönheit und Eigenart der verlorengegangenen Erblande, nicht nur die erlöschende Größe dieses gewaltigen Staatswesens ein, sondern auch die gänzliche Sinnlosigkeit und Nichtigkeit eines Strebens, dessen Tragik überflüssig und vergeblich war. Was er in dem dichtgedrängten Erlebnis des österreichisch-ungarischen Untergangs erfuhr, reichte ihm für zwei Drittel seines Werkes, reichte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, nach dem er erst der so völlig veränderten Gegenwart ins Gesicht zu blicken begann. So entstand Lernet-Holenias Welt - eine Welt der stillen großen Räume des Landadels, in denen die Sonne durch herabgelassene Jalousien auf Kirschholzmöbel scheint, vor dem Haus die bemooste Gartenmauer, der verwaschene Stein-Neptun, die silbrige Fontäne; eine Welt der grüngoldenen Salons und der blutigen Schlachtfelder, auf denen die starren, reichbestickten Embleme des Kaiserreichs blitzen; eine Welt, an der die Melancholie der ungarischen Tiefebene ebenso teilhat wie das Walddunkel der Karpaten, und der polnische Winter ebenso wie das frühlingliche Piemont, das in seinem Herzen noch zu seinem Erbe und wahren Besitz gehörte. Immer tauchen in dieser Welt dieselben Vorstellungen auf, Ängste vielleicht einer allzu behüteten und darum um so empfindsameren Kindheit - vor finsteren Gängen und leeren Vorgemächern, in denen man herumirrt und sich vor dem Entdecktwerden schützt. Und immer gerät man in ihr in den seltsamen Raum zwischen Leben und Tod, oder auf einen Waldweg, der sich in die Ewigkeit verliert. Wie manche Menschen in gewissen Abständen den gleichen Traum erfahren, im Zustand des Halbwachens den gleichen Gesichten unterworfen sind oder, sobald sie sich vom unmittelbaren Alltag lösen, den gleichen Gedanken nachhängen, ja geradezu ausgeliefert sind, so kehrt in Alexander Lernet-Holenias Werk das Motiv des allmählichen Sterbens immer wieder. Schon in seinem ersten Prosastück, der Erzählung "Nächtliche Hochzeit", ist von einer alten Dame die Rede, bei der "die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten" sich "verwischt zu haben schien" . In dem Roman "Der Graf Luna" irrt Alexander Jessiersky neun Tage in den römischen Katakomben umher und wird, sobald er meint, das Tageslicht zu erblicken, auf wunderliche Weise, und ohne daß er's wüßte, längst nach seinem Tode, in das Land seiner Kindheit, Polen, zurückversetzt. Jene neun Tage aber sind der Zeitraum, den er zum eigentlichen Sterben braucht. Am knappsten und berührendsten ist ein solcher Schwebezustand in Lernet-Holenias Gedicht "An Foscolo" geschildert, das in der Sammlung "Die Trophäe" erschienen ist:

- ob wir auf ewig fortgegangen sind.
Du selbst vielleicht, Vorausgegangener, weißt
es nicht, und bis doch längst, wohin der Staub wallt
und die er stellt, die Fragen, alle zielen
wie Pfeile, die ins Dunkel fliehen. Ja
vielleicht daß du, wenngleich dahin, nicht weißt,
daß du dahin bis, und daß auch wir selbst
vielleicht nicht wissen, daß wir schon dahin sind.

Nirgends aber, so oft er sich auch mit ihm beschäftigt hat, ist dieser Gang in "jenes unbekannte Land, aus des' Bezirk kein Wanderer wiederkehrt" , mit solcher Bildkraft, Anschaulichkeit und Traumphantasie nachgezeichnet worden wie im "Baron Bagge", der schönsten Novelle, die Alexander Lernet-Holenia geschrieben hat. Auch hier sind es neun Tage, die Bagge im Zwischenreich verbringt. Und wenn es ihm vergönnt ist, dennoch daraus wiederzukehren, so ist dies doch nicht weniger tragisch, als wäre er in der Tat gestorben, denn nicht nur seine gesamte Schwadron, auch das Mädchen, "die Geliebte, die auf mich geharrt seit je", ist ihm "ins Unzerstörbare entrückt auf immer währende Zeiten".

Das Kleistische an dieser Novelle, die knappe, dichtgewobene und doch so motorische Prosa, unaufhaltsam weiterdrängend in einem steten Fluß, ist noch erhöht und bereichert durch eine poetische Kraft, wie sie nur einem Dichter, dessen eigentliche Ausdrucksform die Lyrik ist, zu Gebote steht. Ein Nachklang jenes Rilke, der dem jungen Lernet-Holenia, als dieser zu dichten begann, unausweichlich vorgeschwebt hatte, ist in der Schilderung des geliebten Mädchens zu spüren, wenn es da heißt: "Was dort aber ein körperliches Glänzen gewesen, war hier ein Glanz von innen." Und in dem Überschwang, mit dem hier von dem "fabelhaften Azur ihrer Augen" gesprochen wird, das "Entfernungen zu spiegeln schien, in denen es Himmel und Meere gab, ungeheure Schicksale, Gold, Elfenbein und grandiose und seltene Dinge" , lebt etwas fort von der preziösen Imagerie des jungen Hofmannsthal. Am packendsten, und hier führt Alexander Lernet-Holenia weiter, was er in seinen frühen Romanen "Die Abenteuer eines jungen Herrn in Polen" und "Ljubas Zobel" begann, aber in der "Standarte" zur wahren Meisterschaft brachte, sind die Heraufbeschwörungen der alten Armee, ihrer Garnisonen und Kampfschauplätze an den Rändern der Habsburgermonarchie. Kein anderer - auch nicht Joseph Roth - hat mit solch sehnsüchtiger Liebe den Geist jenes so seltsam zusammengewürfelten österreichischen Militärs, seinen Zusammenhalt trotz vielfältiger Herkunft, seine Glorie und seinen schicksalhaften Zerfall darzustellen gewußt. Und keinem anderen sind Landschaftsbeschreibungen von solch zwingender Gegenwärtigkeit gelungen, Beschreibungen von Landschaften, wie sie sich einem jungen Dragonerfähnrich in den erregendsten und für immer unvergessenen Monaten und Jahren seines Kriegsdienstes in Ungarn und Ruthenien und weiß Gott wo überall noch eingeprägt hatten. Sie sind es, etwa der Rundblick von der Burg oberhalb der kleinen Stadt Nagy-Mihaly, oder der Ritt durch die Täler der Laborza und der Solinka bis ans Ufer des San, in dem das Wasser wie Glasscherben klirrt, die ihn als Erzähler höchsten Ranges ausweisen. Auf dieser Höhe, in der vorliegenden Novelle wie in seinem Gesamtwerk, sich dauernd zu halten, war ihm freilich nicht vergönnt und hat er auch nicht angestrebt. Kaum irgendwo jedoch in seinen vielen Prosahervorbringungen finden sich so viele Bilder von frappanter Unmittelbarkeit, etwa wenn "der Braune mit leichter, unendlich graziöser Bewegung des Vorderhufs im Schnee zu scharren begann", wenn im Morgentau "einige wenige Sonnenstrahlen, wie schräge Stürze funkelnden Messings", über die Ebene fallen, oder wenn aus Nagy-Mihaly, das in einen rosigen Lichternebel gehüllt ist, vom Lärm der vielen Menschen, die sich dort zusammengefunden haben, ein leises Brausen steigt. Von einzigartiger Anmut ist die Vision der Hochzeit "in dem großen, nur von einigen Kerzen erhellten Raum", darin sich, "flüsternd und von Schmuck-, Gold- und Silberstickereien funkelnd, in flüchtig übergeworfenen Pelzen die Masken" drängten, "während der Geistliche die Traurede hielt". Und nicht von ungefähr läßt sich dieser ganze seltsame Kostümball, der in der Trauung endet, dem Maskenfest in Alain-Fourniers "Le Grand Meaulnes" vergleichen. Denn hier wie dort geht es um einen Traum, der die Wirklichkeit an Schärfe und Eindruckskraft bei weitem übertrifft.

Mit zartester Hand sind jene Hinweise verstreut, daß es sich bei dem neuntägigen Ritt etwa nicht um einen realen Vorgang handeln könne, sondern um die Einbildung eines Sterbenden, der sich freilich noch einmal ins Leben zurückretten kann. Gewiß, gleich zu Beginn wird von dem Herrn von Semler zu Wasserneuburg gesagt, es sei die Katastrophe, in die er seine Schwadron geführt habe, die Opferung dieser ganzen Hekatombe von Menschen und Rossen, nur dazu dagewesen, "damit etwas, das im Bereiche des Lebens, weil es dazu zu spät war, nicht mehr geschehen konnte, nach dem Leben geschehe" . Hier ist auch ausdrücklich die Rede von "jener Zeit und jenem Raum, die zwischen dem Sterben und dem wirklichen Totsein liegen. Denn daß es da ein Intervall gebe, halten viele für sicher. Nach einigen währt er nur Augenblicke, nach anderen Tagen, äußerstenfalls, sagt man, neun. Sonst hätte man doch auch, zumindest früher, die Toten schneller begraben." Aber es wird nirgends vorhergesagt, daß der Baron Bagge, was er nun erleben soll, selbst in einem solchen Intervall erleben würde. Nur aus geringfügigen Verschiebungen, Abweichungen, Unwahrscheinlichkeiten, die jedoch nie zu Unmöglichkeiten werden, mag man in steigendem Maße entnehmen, daß es hier mit rechten Dingen nicht zugehen kann.

Der Baron berichtet selbst, daß ihn zuweilen "das beunruhigende Gefühl von einer Traumhaftigkeit meines ganzen Zustandes" befällt und er einen Augenblick zweifelt, "ob wirklich ich es sei, der hier war, etwa wie wenn einen manches Mal beim Gehen, Fahren oder Reiten ein schwindelnder Zweifel befällt, ob man selber es sei, der da geht, fährt oder reitet". Aber gerade, daß dieses Gefühl - auch schon von Hofmannsthal beschrieben - jedem Leser geläufig ist, drängt den Gedanken, Bagge könnte in der Tat nur träumen, in den Hintergrund. Vielmehr ist es die merkwürdige Anhäufung und übermäßige Lebenslust der Menschen in der kleinen Stadt, sind es die unwahrscheinliche Vertrautheit, mit der Charlotte dem Baron zum ersten Mal entgegentritt, die unerklärliche Abwesenheit des Feindes in einem Gebiet, in das die Russen eigentlich längst eingerückt sein müssen, und schließlich die seltsame Jagd auf Truthähne, die in Bäumen sitzen, mit einer Kentucky-Rifle des Leutnants Hamilton, welche dieser bisher nicht bei sich gehabt hat, woraus man schließen mag, all dies habe sich nur in der Vorstellung des Erzählers, nicht aber in Wahrheit abgespielt.

So allmählich und stufenweise verstärkt sich dieser Eindruck, daß man, fast ohne es zu merken, in die letzte Phase der Wanderung, und damit in die weiteste Entfernung von der Realität eintritt. Erst wenn alles zu glimmen und schimmern und leuchten beginnt, wenn ein unnatürliches Licht von den Reitern und Pferden ausgeht, wenn endlich die Brücke, eine neue und doch die alte, die zu Anfang mit dem gesamten Troß überquerte und von den Russen verteidigte Brücke von Hor, auf der Bagge die beiden - nahezu tödlichen - Geschosse getroffen hatten, ihm als mit Gold beschlagen erscheint, wird das Geheimnis offenbar, erkennt der Leser im selben Augenblick wie der Erzähler mit absoluter Sicherheit, daß hier ein Traum ausgeträumt ist, daß volle acht Tage in wenigen Sekunden verstrichen sind und am neunten an den ersten wieder angeknüpft wird.

Diesen neuntägigen Weg des Todes, "wie er vorgezeichnet ist in den Mythen", ist Alexander Lernet-Holenia selbst gegangen, als er in seinem neunundsiebzigsten Jahre starb. Am dritten Juli 1976 hatte ihn der Tod ereilt. Am zwölften wurde er begraben. Es war nicht, als hätten die Hinterbliebenen dafür gesorgt, daß diese Spanne verstrich, bevor man ihn der Erde übergab. Ganz unvermeidlich hatte es sich so gefügt. Aber wie er selbst über Hofmannsthal sagte, daß dieser in seiner Jugend und wiederum in reifen Tagen mit ungewöhnlichen Kräften, mit einer prophetischen Magie begabt gewesen sei, so war Alexander Lernet-Holenia selbst auf eigentümliche Weise "erleuchtet" sein ganzes Leben. Daß er sich trotzdem den trivialsten Beschäftigungen und Schreibarten hingab, steht dazu nicht im Widerspruch. Wer ihn kannte, weiß um die Distanz, die er bei aller Liebenswürdigkeit zu seiner Umwelt hielt, weiß auch, daß sein Talent, oder wenn man will, sein Genie, nicht der Ratio entsprungen sein konnte. Er schrieb zumeist flink, leicht und wie unter einem Diktat, als hätte der Mensch, der da am Schreibtisch saß, mit ihm und seiner gesellschaftlichen Erscheinungsform nichts zu schaffen. Der unerklärte Begriff der Inspiration, hier war er am Platz. Sobald seine Inspiration ihn im Stich ließ, war er zum Absinken verurteilt. Aber sie kehrte zu ihm zurück, wenn er ihrer wahrhaft bedurfte, sie enthüllte ihm das Zeichen, unter dem sein Dasein stand, und hatte ihn, wann immer er hellhörig für ihre Botschaften war, auch sein eigenes Ende ahnen lassen.