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Alexander Lernet-Holenia
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Leseprobe - Beide Sizilien (1942)

Der Roman Beide Sizilien von Alexander Lernet-Holenia, erstmals veröffentlicht im Suhrkamp Verlag (1942), zählt zu den literarisch tiefgründigsten und qualitätvollsten Werken des Autors. Die hier gezeigte Leseprobe stammt aus dem renomierten Kapitel „Silverstolpe“.

Beide Sizilien - Suhrkamp 1942

erstmals erschienen: Suhrkamp Verlag, Berlin, 1942

Beide Sizilien
(Auszug aus dem Kapitel „Silverstolpe“)

[...] Ein paar Tage später erzählte Silverstolpe dem Rittmeister einen Traum, den er gehabt hatte.

«Man könnte meinen», sagte er, «ich dächte nun oft an den Tod und an die Vergänglichkeit, an das Vergangene vor allem. Es wird mir freilich vieles von den hier im Lande begrabenen Toten, mit denen ich verwandt bin, bewußt. Wie ein Fasergeflecht zusammenhängender Wurzeln, aus denen das Lebende aufblüht, scheinen sich mir die Geschlechter der Toten unter dem Boden hinzuziehen. Und ich denke oft auch an die Toten des Regiments. Aber eigentlich denke ich doch nicht an den Tod oder an das Leben nach dem Tode, sondern es ist das Leben der Toten vor ihrem Leben, an das ich denke und welches genau so sein muß wie das Leben nach dem Tod. Überhaupt scheint mir auch alles Zukünftige ein solches Leben, bloß daß es noch nicht erwacht ist, während das andre schon wieder schlafengegangen. Nur das Vergangene ist ja auch das Künftige. Das Künftige weiß niemand – doch die Vergangenheit weiß es. Zwischen beiden, dem Vergangenen und dem Künftigen, steht der Augenblick. Der Augenblick scheint mir wie ein Spiegel und wie eine Angel der Welt: wie eine genaue Mitte aller Zeit scheint mir jeder Moment, in welchem wir leben. Gleich weit zurück und gleich weit voraus reicht die Zeit von jedem dieser Augenblicke. Und der Spiegel, welcher in einem jeden der Augenblicke aufgerichtet ist, strahlt alles wider, was war. Indem es aber scheint, als sei er in seinen Angeln völlig herumgewendet, wirft er die Bilder der Vergangenheit voraus als Bilder der Zukunft. Es gibt keine andern, und nichts andres Zukünftiges. Alle Dinge, die gewesenen nicht nur, die noch da sind, sondern auch die zukünftigen, die schon da sind: sie sind eben da schlechthin. Wie die Toten in ihre Särge verpackt sind, sind auch die Ungeborenen in ähnliche Hüllen verpackt, aus denen man sie nur noch nicht genommen, um sie leben zu lassen und danach wieder in Särge zu verpacken. Die zukünftigen Dinge und Geschlechter, die Herrscher mit ihren Zeichen der Macht und ihre ganzen Völker, all das ist schon vorhanden und wartet, wie in Puppen versponnen, aus welchen oben an den schadhaft gewordenen Stellen vielleicht schon das elfenbeinerne Schweigen der Stirnen blickt;–wie auf dem Dachboden einer Kirche, wo die Luft nach Fledermäusen riecht, verpackte Gegenstände, die man nur an Festtagen braucht, auf ihre Stunde warten, so wartet alles Künftige auf seine Stunde, um auszuschlüpfen. Die ganze Welt ist etwas Immerbestehendes, aber wir sehen nur ein weniges davon, aus dem Dunkel kommt der Strom des Gegenwärtigen und schießt ins Licht, danach strömt er weiter, wieder ins Dunkle, und scheint nicht mehr da, aber da ist immer alles, und alles ist gleichzeitig da. Denn wie nichts anders ist, als es gewesen, so kann auch nichts anders kommen, als es schon vorhanden ist.

Ich weiß nicht, ob ich dir einmal erzählt, daß ich eigentlich nie eine wirkliche Geliebte gehabt habe. Diese Nacht aber träumte ich von einer Geliebten. Und zwar war es nicht eine, die es schon gewesen wäre, sondern es war eine, die es erst sein würde, wenngleich mir – weil die Zeit bereits beginnt, ihre Gültigkeit für mich zu verlieren – im Traume war, als sei auch dies schon gewesen.

Der Traum spielte also in einer sehr fernen, zukünftigen Zeit. Vielleicht war der Traum nur eine Erinnerung an etwas, das ich einmal in einem Buche – ich glaube: eines Amerikaners – gelesen. Aber es war eine abgewandelte Erinnerung. Ich war gestorben, und es war im Jenseits, wo ich zu sein glaubte, wenngleich ich dir nicht beschreiben kann, wie es dort war. Und ein Mädchen oder eine junge Frau, mit Gliedern aus Licht, stand bei mir. Auch sie hatte einen dieser irdischen Leiber schon abgestreift, in welchen wir zeitweise wohnen wie in unglaublich schlechten und löcherigen Behältnissen. Sie nannte sich Ithona. Sie war nach mir gestorben, sie war sogar eben erst gekommen und erzählte mir nun, wie ihr Tod gewesen sei.

‚Als du starbst, mein Lathmon‘, sagte sie zu mir – denn so nannte sie mich im Traume – als du mir entrissen wurdest, ahnte die Welt noch nichts von der Katastrophe, die ihr, oder zumindest unserer Erde, in nicht allzu ferner Zeit bevorstehen sollte. Ich lebte in dem Landhause im Gebirge, wohin ich mich nach deinem Tode zurückgezogen hatte, um dich zu beweinen, und wo auch ich selber – wie ich meinte – einst sterben würde.

Doch sollte es anders kommen.

Manche Vorstellungen hatte die Menschheit sich schon von dem Ereignis gemacht, welches ihrem Dasein einst ein Ende setzen sollte. Man glaubte, zu einer gewissen Zeit werde ein Komet den Erdball zerstören, man dachte an einen Zusammenstoß mit einem andern Stern, an einen Niederbruch des Mondes, an ein allmähliches Erfrieren alles Lebendigen, vielleicht auch an eine zweite Sintflut. Später erst begann man wieder zu ahnen, was man schon als erstes geahnt: daß es nämlich das Feuer, das erste und schöpferischeste Element, sein werde, welches bestimmt sein sollte, uns auch zu vernichten.

Aber selbst das schien den meisten noch unendlich ferne.

Es wäre jetzt noch Sommer auf Erden, sehr heißer Sommer sogar, und so konnte es zunächst nicht auffallen, daß – es mag nun acht Tage her sein – die Sommerhitze eine ungewöhnliche wurde, wenngleich oder eben weil der Himmel fortwährend mit Dünsten bedeckt war, durch welche die Sonne, heiß wie durch einen Schleier aus verdunsteten Metallen, ihre Strahlen sandte. Man schob die außerordentliche Hitze auf die Sonnenflecken dieses Jahres, aus welchen – so sagte man – wie aus schwarzen, vulkanischen Schlünden ungezählt hohe Hitzegrade hervorbrächen. Als aber auch an den folgenden Tagen die Temperatur nicht sank, sondern vielmehr immer weiter anstieg und unerträglich zu werden drohte, ahnte man die ganze, ungeheure Gefahr. Und es sollte danach nur mehr ganz kurze Zeit dauern, daß die Ahnung zur Gewißheit ward.

Man hatte längst entdeckt, daß unter den zahllosen Sternen des Firmaments einige (durchschnittlich sechs in jedem Jahr), und zwar meist die am schwächsten glänzenden, ganz unvermutet hell aufleuchteten, ein paar Tage lang alle andern Sterne, selbst den Jupiter, überstrahlten und danach wieder in Bedeutungslosigkeit zurücksanken. Tycho de Brahe war einer der ersten gewesen, die einen solchen Stern entdeckt hatten. Aus Gründen, die nicht hatten erforscht werden können, steigt die Oberflächentemperatur dieser sogenannten Novae ganz plötzlich auf etwa das Fünfundzwanzigtausendfache. Irgendein Astronom hatte berechnet, daß jeder Stern durchschnittlich alle vierhundert Millionen Jahre in eine Nova ausbrechen müsse. Die Gefahr lag nahe, daß dies auch bei unserer Sonne eintreten werde. In diesem Falle mußte die Temperatur auch auf den von ihr bestrahlten Planeten und deren Satelliten derart ansteigen, daß darauf alles verbrennen würde. Und unsere Erde konnte nicht ausgenommen bleiben. Nun behaupteten aber die Geologen, keinerlei Anzeichen in der Struktur der Erde deuteten darauf hin, daß die Sonne in den letzten zwölfhundert Millionen Jahren in eine Nova ausgebrochen sei; und daß sie vorzeiten die Planeten geboren, könne die Ursache davon sein. Unter den Leuten, die von derlei Dingen wußten, löste diese Feststellung Befriedigung aus. Doch statt anzunehmen, daß die Sonne überhaupt nicht in eine Nova ausbrechen könne, hätte man, im Gegenteil, schließen sollen, daß die Wahrscheinlichkeit, sie werde es dennoch tun, ins Ungeheure gestiegen sei. Erst als die Temperatur auf Erden, ohne anderweitige begreifliche Ursachen, sich sosehr hob, schloß man auf diese Gefahr. War die Sonne wirklich im Begriff, zur Nova zu werden, so mußte die Hitze, zumindest bei Tag, derartige Grade erreichen, daß die Felder und Wälder auflodern, die Städte verbrennen, das Meer zu Dampf werden, ja selbst die Luft in Feuer aufgehen würde. Kurz, der Jüngste Tag mußte kommen.

Es bestand, angesichts der Plötzlichkeit, mit der das Verhängnis drohte, keinerlei Einigkeit, ob man diese Schlüsse der Astronomen der Öffentlichkeit mitteilen solle oder nicht. Eine unbeschreibliche Anarchie, ein Aufruhr nicht nur gegen jede Ordnung, sowie der Menschen untereinander, sondern auch gegen Gott selbst mußte die Folge einer solchen Mitteilung sein. Und was dann, wenn die Gefahr dennoch vorüberging? Würde der Zustand, in welchen die Menschen, in ihrer Angst, die Welt versetzt, je wieder gutzumachen sein?

Was aber direkte Mitteilungen vermissen ließen, das besorgte das Gerücht. Viele Leute, von der Hitze gequält, glaubten an das Weltende, viele wiederum wollten nicht daran glauben. Es schien ihnen ganz unmöglich, daß das Leben auf Erden, das sie für ewig gehalten hatten, plötzlich aufhören solle. Sie hatten gemeint, elend zu leben. Nun sie sterben sollten, hängten sie sich an die Vorteile ihres Lebens. Sie schäumten vor Wut. Manche verfielen dem Wahnsinn, rannten umher und fluchten der Sonne. Die Menschen, einst von Göttern erzeugt, waren in Wahrheit ein staubgeborenes Geschlecht geworden.

Mich und meine Dienstleute, in unserer Zurückgezogenheit, erreichten die Nachrichten verhältnismäßig spät, und von uns allen begriff eigentlich nur ich sogleich die ganze Bedeutung des Ereignisses. Du weißt ja, ich war, schon als du noch lebtest, den Künsten und Wissenschaften hingegeben gewesen. Denn ich hatte mir gesagt, daß eine vollkommene Geliebte nicht nur körperlich, sondern auch geistig schön zu sein habe.

Es war bei uns im Gebirge verhältnismäßig kühler geblieben als im flachen Lande. Dennoch war die Hitze schließlich unerträglich geworden. Die Wiesen zitterten in glühendem Dunst, wie Verschmachtende neigten die Obstbäume darüber hin. Unbeschreiblich drohend stiegen die Berghänge ringsum, die Waldränder standen wie Gewitter. Ich schleppte mich, von einer Unrast getrieben, die ich damals noch nicht verstand, von einem Zimmer des Hauses ins andre, es war mir, als müsse ich in meiner Beklemmung bei den vertrauten Dingen, die in den Zimmern standen, Hilfe suchen – hatten denn die meisten dieser Dinge nicht schon unvergleichlich mehr Dasein überstanden als ich, wie konnte es denn sein, daß plötzlich etwas geschehen solle, das sie selber niemals erlebt hatten! Aber auch die Möbel, die Bilder – so schien es – wußten auf einmal keinen Rat mehr, sie ließen mich vollkommen im Stich, die Erinnerungen an meinen Vater, der Nähtisch, an welchem meine Mutter gesessen hatte, waren mir ganz fremd geworden, und wenn ich aus den Fenstern blickte, so sah ich, durch die weißgoldenen Rahmen, selbst die Natur völlig verstört in einer sozusagen schattigen Glut liegen, als schlügen die Schwingen eines ungeheuren Schreckens auch schon über ihr. Es war, als habe Gott dem furchtbarsten seiner Engel Gewalt gegeben, die Erde zu ernten, allein der Engel tat es auf seine Weise, er war wohl mit seiner Hippe gekommen, doch schlug er noch nicht zu, es war, als wolle er mit dem bloßen Schrecken töten, der von dem Rande seines Schattens ausging. Und die Kreaturen, das Laub der Bäume, das Gras, ja selbst die völlig leblosen Dinge hielten den Atem an und wagten nicht mehr, sich zu rühren. Es lag alles lautlos. Doch war es wie eine ungeheuer lärmende Stille, und als sei sie nur so vollkommen, weil der entsetzliche Ton, den sie enthielt, so sehr über jedes Maß hinausging, daß kein Ohr ihn mehr zu vernehmen vermocht hätte. Alle Arbeit auf den Feldern, jede Bewegung in dem entfernten Dorfe ruhte. Und in dieser Stille, in der die Dinge schon, wie in einem Ofen bei enormer Hitze, gleichsam zerfielen und aufhörten zu sein, vernahm man nur ein Geräusch: über die Wiesen her das Stampfen einer entlegenen Walkmühle. Der Ton hatte mich schon längst verdrossen. Die Geschäfte des Walkmüllers gingen schlecht, niemand wollte ihm seine Ware abnehmen, er aber versuchte, es durch fortwährende Arbeit wettzumachen, und oft scholl der unangenehme Ton sogar des Nachts. Nun erscholl er noch immer. In den Beginn der Offenbarung der Majestät Gottes, über das Ende jedes andern Wirkens hinaus, in die Einsicht aller Dinge, daß ihr Lärmen nutzlos geworden sei, scholl noch immer der sinnlose Ton aus der Mühle des Besessenen. Nie hatte mir, was von Menschen geschieht oder geschehen war, nie noch alles Tun überhaupt so sinnlos geschienen.

Wir – meine Dienstleute und ich – hatten uns bereitgemacht, einen unserer himmelhohen Berge zu ersteigen, um Kühlung auf seinem Gipfel zu finden. Freilich waren wir auf das Schlimmste noch nicht gefaßt. Als aber die Gerüchte vom Ende der Welt uns erreichten, sagte ich mir sofort, daß sie wahr sein müßten. Ich erstieg das Gebirge in der Überzeugung, die Reise zu keinem andern Zweck als zu dem der Wiedervereinigung mit dir, mein Bruder Lathmon, angetreten zu haben. Und so fürchtete ich auch den Tod nicht mehr.

Wir stiegen des Nachts, verfolgt von den Wogen der Hitze, die in den Gründen brütete. Ich ritt ein Maultier, und meine Dienerinnen vermochten kaum, sich mit mir zu schleppen. Doch unser Lechzen trieb uns weiter. Und mit uns flüchtete, in beispielloser Unruhe, das Wild der Wälder bergan. Selbst das Vieh in den Gehöften hatte sich schon losgerissen und stürmte zu Berge.

Schließlich drängten uns auch Scharen von Menschen nach, welche ihre Städte und Dörfer verlassen hatten und Rettung in den Bergen suchten.

Und von den Höhen dieser Berge stürzten uns bereits, wie Ströme, die Gletscherbäche entgegen. Die Gletscher hatten begonnen abzuschmelzen und schäumten zu Tal. Als wir die Höhen des Gebirges erreicht hatten, ging eben die Sonne auf. Noch war ihr Anblick nicht eigentlich verwandelt, noch war sie nicht zu einer einzigen, tobenden Explosion geworden, aber die Hitze, die sie ausströmte, war entsetzlich. An diesem Tage müssen in den Ebenen schon unzählige Menschen verschmachtet sein, und auch im Gebirge wäre die Glut unerträglich gewesen, hätten die enormen Mengen von Wasserdampf, die emporstiegen, sich nicht zu Gewittern zusammengeballt, deren fortwährende Blitze wie feurige Spinnennetze den ganzen Himmel überzogen, deren Donner ohne Pause wie Peitschenschläge krachten und deren Regenstürze heiß, fast siedend waren wie das Wasser überhitzter Bäder.

Den Tag über schmachteten wir in einer Grotte. Die Nacht brachte, wenn nicht merkliche Kühlung, so doch ein völliges, jähes Verschwinden der Wolken. Der Sternenhimmel tat sich mit gläserner, gräßlicher Klarheit auf. Alle Sterne, unmäßig vergrößert, schwankten und zitterten in der Luft, welche flimmerte wie über einer gigantischen Brandstätte.

Der Ausbruch der Sonne erfolgte, nachdem sie, für unsere Gegenden, seit etwa zwei Stunden untergegangen gewesen war. Wir merkten die Explosion des Gestirns an dem gewaltigen, ungeheuer tosenden Ton, mit welchem das Feuer die andre Hälfte der Erdoberfläche ergriff und der sich auch über die ganze nächtliche Hälfte verbreitete und das Schallen der Posaunen des Jüngsten Gerichtes gewesen sein mag. Zugleich stürzte die Luft, auf den Schwingen eines riesigen Orkans, in die Gegenden auf der andern Seite der Welt, aus welchen die Sonne die brennende Luft fortsog. Wir mußten uns zu Boden werfen und uns, um nicht fortgerissen zu werden, an die Felsen klammern, die ein furchtbares Erdbeben schwanken machte. Nach einiger Zeit ließ der Sturm nach. Wir vermochten die Köpfe zu heben und sahen, daß der ganze Rand des Horizonts von einem lohenden Scheine umgeben war, etwa wie die schwarze Sonnenscheibe während einer vollkommenen Verfinsterung von den Flammengarben der Korona. Dies war der Widerschein der Erdhälfte, welche brannte. Und über diesem Glutkranz sahen wir von den Planeten, die über den Himmel zogen, die inneren sich gleichfalls entzünden. Saturn näherte sich dem Sternbild des Krebses, in welchem er der Überlieferung zufolge bei der Schöpfung, zugleich mit allen andern, dem Jupiter vereint gewesen. Doch wird er sich ihm erst in zehn Jahren, im Skorpion, wieder vereinen. Die kleineren Planeten brannten wie Fackeln, ihr Gestein, ihre Metalle mochten in Flammen aufgegangen sein. Offenbar waren die Hitzegrade, welche die Sonne erreicht hatte, viel größere als bei andern Novae. Merkur glich einem brennenden indischen Diamanten, Venus einem Smaragd, Mars einem Rubin. Die Asteroiden zogen wie ein Ring von Sternschnuppen um die Erde. Alle Perseiden lohten. Auch der Mond brannte. Unendlich große Feuerwolken zogen ihm nach.

Wir verbrachten die Nacht in Anbetung der Majestät Gottes. Es bestand allerdings noch eine geringe Möglichkeit zu unserer Rettung, im Falle nämlich die Sonne, da sie stärker ausgebrochen sein mußte als andre Novae, auch schneller, das heißt noch vor Sonnenaufgang, erlöschen würde. Aber diese Möglichkeit sollte nicht eintreten. Die Stunden gingen hin, es kam die Zeit, zu der die Sonne aufgehen mußte, und noch immer glühte der ganze Horizont von den Feuern. Lauter erklang der Posaunenschall der Engel des Gerichts, bis zum Zenith loderte der östliche Himmel im Morgen des Jüngsten Tages. Es war nur mehr eine geringe Zeit bis Sonnenaufgang, sie schwand hinweg, und es waren nur mehr Minuten. Ich lag auf dem Angesichte und betete an und wußte, daß du, mein Lathmon, Nuaths Sohn, es sein werdest, der mir entgegenschweben und mich vor Gott führen werde. Und in den letzten Augenblicken dachte ich nur mehr an dich. Vielleicht war auch nur dies der Grund, aus dem ich dich, in der Unendlichkeit der Ewigkeit, wirklich wiedergefunden. Denn sie waren nun gekommen, diese äußersten Augenblicke. In dem Moment, in welchem der höchste Rand der Sonne über den Horizont stieg, traf ein furchtbarer Blitz, schärfer als die Spitzen von zehntausend in Glut getauchten Pfeilen, unsere Augen, so daß sie die Sonne nicht mehr zu sehen vermochten. In diesem allerletzten Augenblick entzog sich die Übermacht ihres Geheimnisses jedem menschlichen Auge. Unsere Ohren barsten von dem Getöse der Posaunen, und zugleich ging alles, die Erde, die Luft, unsere Haut und unser Haar in ein ungeheures Feuer auf, das aber nicht größer war als das Feuer unserer Liebe, und welches mich mit dir vereinte…» [...]