Leseprobe - Die Goldene Horde (1935)
In den Versen der Goldenen Horde ersteht ein dunkles Bild jener letzten Tage, in denen die Zarenfamilie 1918 ihr Ende fand. Alexander Lernet-Holenia verwandelt das historische Geschehen in ein poetisches Zeitbild von erschütternder Eindringlichkeit, in dem Vergänglichkeit, Gewalt und Schicksal unauflöslich ineinander verwoben erscheinen.

Erstmals erschienen in: Die goldene Horde. Gedichte und Szenen. Herbert Reichner Verlag, Wien-Leipzig-Zürich, 1935
Die Goldene Horde
In Paris erzählte
der Kammerherr Atschkassow:
Heute vor vierzehn Jahren
brachte man die Zaren
von Tobolsk nach Pskow.
Doch fielen auf dieser Reise,
wenn der Auserwählte
vorbeikam, immer noch die
Bauern neben dem Gleise
überall hin auf die Knie.
Da nahm man die Allerhöchsten
Gefangenen und die Kinder
und führte sie auf dem nächsten
Wege zurück nach Kasan.
Ihr Haar wurde weiß wie der Winter,
doch da kam mit einem Korbe,
als hielte er Hühner feil,
Alexander von Rosenthorpe
und sagte, es habe ein Teil
der kleinen Goldenen Horde
sich gesammelt und samt allen
ihren Weißen Knochen
(das heißt: ihrem Adel) versprochen,
an einem bestimmten Orte
bei Orenburg die Eskorte
im Zuge zu überfallen,
denn der junge Zar war ihr Khan.
Doch das blieb den Sowjets nicht verborgen.
Sie erschossen den Mann mit dem Korbe
und warfen ihn zum Hohn
in den Zug, den ließen sie ohne
jemanden andern davon,
und als am nächsten Morgen
unter ihren entrollten
Bannern die Khirgis-Kasaken
aus den Steppen von Khadzia-Khadir
und den Mamukwüsten
bei der versunkenen Stadt Sarai,
die Schwarzen und Weißen Knochen,
Volk und Fürsten, aufgebrochen
mit einem Feldgeschrei
und mit lauter auf ihre Weise
auf die Lanzenspitzen gespießten
Igeln, die Glück bringen sollten,
und an der aufgerissenen Stelle
hielten unterm Befehle
von Sejid Nasyr,
sprang der Zug zwar aus dem Geleise,
doch sie fanden nur Rosenthorpe
und begruben den Helden hier,
und inzwischen wurden die Zaren
auf zwei Lastwagen, zwischen die Horde
geklemmt, zurückgefahren,
und die Steppe war ungeheuer
und die Tage heiß wie ein Feuer,
und sie standen zusammengedrängt
wie Kälber, von der Eskorte
beengt und eingezwängt,
und schwankten alle im Stehen,
als ob sie getrunken hätten.
Doch dann waren schon Berge zu sehen,
und es mischte sich auf einmal
mit dem Zigaretten-
rauch ein süßes Wehen
von Wald aus dem Ural.
Wie Sensen blitzten die Seen
im Sommersonnenstrahl,
und da fielen auch schon von den Höhen
Schatten über das Tal.
Das Laub hing auf die Straße,
moosige Felsen troffen
in einem grünen Licht,
der Efeu hing von den Schroffen
und Säulen des Walds, und sie kamen
in den Duft der Zyklamen,
und immer schlugen nasse
Zweige in ihr Gesicht,
und der Himmel ward wie Türkisen
über der Berge Pracht,
ein Wasser fiel mit Gesängen
im Dämmer durch den dichten
Wald, und der Mond hing mit süßem
Glanz in blauseidener Nacht.
Im Bergwind sausten die Fichten,
die Wellen blitzten wie Flitter
in den Seen, und neu durch die Klüfte
stieg die Sonne, und hoch auf den Hängen
zitterten wieder die Lüfte,
es stiegen ferne Gewitter
im Süden, und wiederum aus
den Schauern der Felsenschlüfte
kamen sie in die Düfte
glühender Wiesen hinaus,
und erst nach zwei Tagen und einem
halben, am Vormittag,
hielt man wegen Versagens
im Gang des vorderen Wagens
unter den Bäumen bei einem
Gut, das verlassen lag.
Ach, in weiter Ferne
schwamm schon der Berge Blau,
die Kastanien rauschten,
und wo die Schatten lagen,
sprühte wie lauter Sterne
noch der Morgentau.
Die Kerle aber tauschten
auch noch ein Vorderrad aus,
und die Zaren mußten vom Wagen
und mit einem Posten ins Haus.
Da gingen sie langsam von Zimmer
zu Zimmer, und seltsam! es schien,
als schritten auch andere immer
schon vor ihnen hin.
Nur Heugeruch kam durch die Läden,
doch vor den Türen schon
hörten sie in den leeren
Zimmern leise reden
und den Klang von Sporen, den Ton
aneinanderschlagender Orden
und ein Rascheln wie von
Frauenkleidern, als wären
Leute aufgeschreckt worden
und wichen vor ihnen davon.
Es war wie ein Wehn in den Haaren
und ein Huschen vor ihnen her
und ein Treten von Unsichtbaren,
bis sie endlich im Gartensaal waren,
und sie kamen auf ein seit Jahren
verwildertes Rosenparterre.
Da lag in weitem Bogen
der Garten unten im Traum,
der Himmel war halb schon umzogen,
und der Wind kam geflogen,
und es gingen Blumenwogen
über die Wiesen wie Schaum.
Mit dem Duft schon der Beete
vermischte sich Regenduft,
und der Waldrand wehte
in der Gewitterluft.
Überall war es wie Rauschen
und Sausen von Seidenstoff,
und sie standen still um zu lauschen
- sagte Atschkassow - ,
und sie gingen verwachsene Wege
in den Garten hinein,
als suchten sie etwas, das läge
immer noch weiter landein,
und da kam auch ein Schwarm von Meisen
mit dem Gewitterwind her
und begann um den Zaren zu kreisen,
und später erzählte der
Posten, es war dann, als wagten
sich zweie, so kam es ihm vor,
auf die Schultern des Zaren und sagten
und sangen ihm etwas ins Ohr,
er wußte nicht, was für Lieder,
und gab auch nicht weiter drauf acht,
weil man da die Gefangenen wieder
zu den Wagen gebracht,
und die Fahrt ging durch Regen und Schloßen.
Doch da fingen im Dorfe die Hähne
zu krähn an, und Hunde zu bellen
mit gesträubten Haaren,
im Sturmwind sausten die Eschen
und überall in den Ställen
der Bauern brüllte das Vieh,
und es war ein Poltern und Gellen
und ein Lärm wie beim Weizendreschen
und ein Fluchen und ein Gestöhne
in den Höfen am Wege wie
beim Ende der Welt. Und die Wellen
der Tschussawaja flossen
wieder zu Berg. Denn die Zaren
wurden noch in der Nacht
in Jekaterinburg erschossen,
von Wolkow, samt Kotschubej
Olga und Marija,
Tatijana und Anastasija
und dem jungen Alexej.