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Alexander Lernet-Holenia
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Leseprobe - Die Standarte (1934)

Die Standarte - Zsolnay 1959

Die Standarte
(Auszug)

„Nun“, sagte Anschütz und ließ die Zügel auf den Hals seines Pferdes fallen, „da haben wir's!“
„Was haben wir da?“ rief Bottenlauben. „Die Meuterei.“

Bottenlauben antwortete nicht sogleich. Aber nach einem Moment zog er langsam seinen großen, gebogenen Säbel, wendete sein Pferd und ritt die paar Schritte bis zur Spitze der Schwadron zurück. Auch die Stäbe des Obersten und des Divisionärs hatten gewendet, kamen mit Getrappel heran und blieben in unserem Rücken stehen.
„Was gibt’s da?“ fragte der General.

Allein es antwortete niemand.
In Heisters Hand, der gleichfalls gewendet hatte und so geistesabwesend auf das ganze Bild starrte, als ginge es ihn gar nichts an, flatterte die Standarte.

Bottenlauben ritt ganz dicht vor einen der Leute in der ersten Reihe hin und sozusagen in die Reihe selbst hinein. Die Nüstern seines Pferdes berührten fast die Hüfte des Mannes. „Vorwärts!“ befahl er.

Aber der Mann rührte sich nicht. Er blickte gleichmäßig gradeaus, wenngleich die Nähe des Rittmeisters ihm unheimlich sein mochte und er sich ein wenig verfärbte.
„Vorwärts!“ schrie Bottenlauben, und seine Stimme überschlug sich.

Doch rührte sich der Mann noch immer nicht, nur die andern warfen ihm rasche Seitenblicke zu.

Da richtete Bottenlauben sich in den Bügeln auf, holte aus, so weit er konnte, und schmetterte dem Manne die flache Klinge mit aller Kraft auf den Helm. Ein gellender Klang folgte, der Mann, unter der Gewalt des Hiebes, fuhr in sich zusammen, und zwei Drittel der Klinge splitterten in großem Bogen schwirrend und blitzend hinweg.

Einen Moment lang währte noch die Stille, dann begann aus den Reihen der Mannschaft ein Gemurmel, es steigerte sich rasch zum Geschrei, und im nächsten Moment stieg aus der ganzen Länge des Regiments und wahrscheinlich auch aus der Kolonne der Ulanen, die zumeist noch am Ufer standen, ein Gebrüll auf, wie ich noch nie ein gleiches gehört hatte.

Es erschütterte die Luft, es hielt an, nach ein paar Sekunden schon war es, als hätte es Minuten gewährt, es ward nicht schwächer, es ließ sich auch kein Anzeichen wahrnehmen, daß es enden wolle. Die Mannschaft, freilich ohne daß sie gewagt hätte, die Einteilung zu verlassen und die äußerliche militärische Haltung aufzugeben, brüllte mit plötzlich so verzerrten Gesichtern, als hätte sie selber Angst vor dem, was sie tat, und als wolle sie das Geschrei, einmal begonnen, durch Geschrei übertäuben. Wir, im Augenblick selber fassungslos, starrten die Leute an. Wenn wir auch manches geahnt hatten, so hatten wir doch nie vermutet, daß etwas derartig uns Fremdes und Unbegreifliches, etwas so entsetzlich Andres, unter der Oberfläche der Mannschaft versteckt gewesen war. Nun aber brach es hervor, wie sich eine Herde des Zwanges, der sie gebändigt hat, entledigt, und wenngleich die Mannschaft eigentlich nichts tat, als daß sie dumpf aus sich herausschrie, so war es doch, als fiele mit diesem Geschrei von ihnen und dem Regiment alles ab, was sie und das Regiment erst zu dem gemacht hatte, was es war, zu einem großen Machtmittel voll Sinn und Kraft, zu einer Einheit voll historischer Sendung, zu einem Instrument der Weltpolitik. Es war, als fielen die Helme und Uniformen, die Abzeichen der Chargen und die kaiserlichen Monogramme der Kokarden von den Leuten ab, als schwänden die Pferde und die Sättel hinweg, und es blieb nichts übrig als ein paar hundert nackte polnische, rumänische oder ruthenische Bauern, die gar keinen Sinn mehr dafür hatten, unter dem Zepter des Kaisers die Verantwortung für das Schicksal der Welt mitzutragen.

Die Offiziere, als sie im allgemeinen Tosen zueinander zu sprechen versuchten, hörte man nicht mehr, es war, als bewegten sie bloß lautlos die Lippen. Manche der Trains auf der anderen Brücke blieben stehen, und die Leute von dort sahen zu uns herüber. Schließlich ließ der Divisionär „Habt acht!“ blasen, und zwar wiederholt. Die anderen Trompeter hatten das Pflichtbewußtsein, das Signal aufzunehmen, eine Zeit erklang das Geschmetter der Trompeten durch den Lärm wie das helle Krähen von Hähnen, es gewann schließlich die Oberhand, und das Gebrüll starb hinweg.

Wieder trat eine Stille ein, in der man nur den Wind und den Strom hörte.
Die Offiziere blickten einander an.
„Nett, was?“ sagte Bottenlauben, sah auf den Säbelstumpf, den er noch in der Hand hielt, und warf ihn ins Wasser.

In diesem Augenblick sprengte Jochen, der am Ende der Schwadron gehalten hatte, neben der Kolonne nach vorn, zog seinen Säbel und reichte ihn seinem Rittmeister.
Bottenlauben sah ihn an, dann nickte er ihm zu und nahm den Säbel.

„Herr Graf“, sagte Jochen, „die Kerls wollen partout nicht weiter.“
„Soso“, sagte Bottenlauben. „Partout nicht?“
„Nein. Sie sagen, wenn sie ans andere Ufer gingen, kämen sie nie wieder zurück. Drüben, sagen sie, wären die Franzosen, die würden uns alle fangen. Das müssen sie von den Husaren gehört haben.“

Bottenlauben wandte sich im Sattel um und blickte dem Obersten ins Gesicht. Der Oberst, nach einem Moment, brachte sein Pferd in Bewegung. Er ritt im Schritt neben der Kolonne entlang, und als er etwa bis zum zweiten Zug unserer Schwadron gekommen war, hielt er an, stand in den Bügeln und rief: „Soldaten!“

Die Gesichter der Mannschaft wandten sich zu ihm herum.
„Wer“, rief er mit lauter Stimme, „hat euch den Befehl gegeben, hier zu halten?“
Ein dumpfes Gemurmel stieg aus der Kolonne auf.
„Nun?“ schrie er. „Wer ist es gewesen, der euch einen Befehl gegeben hat, der meinem Befehl widerspricht? Ich habe befohlen zu marschieren. Wer hat euch befohlen, hier anzuhalten? Er soll sich melden, der das getan hat! Er soll hierherkommen, um mir zu sagen, daß er einen Gegenbefehl gegeben hat, und ich werde ihn dafür zur Verantwortung ziehen!“

Es folgte eine vollkommene Stille.
„Nun?“ schrie der Oberst, zog die Pistole und hob sie hoch. Es antwortete niemand.
Der Oberst setzte die Mündung der Pistole einem der Leute, die vor ihm hielten, an die Brust. „Welcher Schuft“, schrie er ihn an, „hat dir befohlen, hier haltenzubleiben?“

Ungefähr gleichzeitig setzten wir Offiziere alle, auch die vom Divisionsstab, uns in Galopp und sprengten zwischen dem Geländer und der Mannschaft zum Obersten hin. Die Mannschaft ward dadurch an das andre Geländer gedrängt. Auch Anton, der am Ende des ersten Zuges gehalten hatte, kam aus der Kolonne heraus und war plötzlich neben uns. Er blies die Backen auf, wie er zu tun pflegte, wenn etwas Unangenehmes passierte, doch gab ich nicht weiter auf ihn acht.

„Nun?“ brüllte der Oberst den Mann an. „Wirst du antworten oder nicht?“
Ein drohendes Gemurmel entstand ringsum. Der Mann hatte sich verfärbt und stotterte, niemand habe den Befehl gegeben.
„Warum also“, schrie der Oberst, „bist du dann hier stehengeblieben?“
Der Mann antwortete etwas in seiner eigenen Sprache, das wir nicht sofort verstanden, und daraufhin drängte sich ein andrer neben ihn, ein ziemlich großer Mensch mit einem entschlossenen, etwas zu vollen Gesicht und zusammengezogenen Brauen, und sagte laut und heftig in gebrochenem Deutsch, den andern allein könne man nicht verantwortlich machen, es seien ja alle stehengeblieben, denn alle zugleich hätten sich entschlossen, nicht weiterzugehen. Gleichzeitig stieg wieder lautes Geschrei ringsum auf.

„Ruhe!“ brüllte Bottenlauben.
Das Geschrei erstarb, und der Mann fuhr fort: es habe kein Bestimmter gesagt, das Regiment solle nicht weiter, sondern das ganze Regiment werde es gar nicht erst versuchen, noch ans andre Ufer zu gehen. Denn es sei ein Unsinn, noch hinüberzurücken, nur um sich gefangennehmen zu lassen. Die Lage drüben sei hoffnungslos, das wisse die Mannschaft sehr genau, und deswegen habe sie sich auch schon in Karanschebesch beschlossen, nicht weiter zu gehen als bis zur Brücke. Niemandem von den Leuten werde es mehr einfallen, sich, bloß damit um jeden Preis ein Befehl ausgeführt werde, am anderen Ufer fangen oder gar erschießen zu lassen.

Diese Rede hielt er in wachsender Erregung, und zustimmendes Geschrei folgte wiederum. Der Oberst fuhr ihn an, ob das Regiment denn vergessen hätte, noch vor wenigen Stunden den Eid geleistet zu haben; der Mann aber rief, die Leute hielten sich an den Eid nicht mehr gebunden. Sie hätten ihn nicht freiwillig geleistet, und deshalb sei er wertlos, und endlich hätten sie vor allem nicht geschworen, etwas ganz Hirnrissiges zu tun. Hinüberzurücken aber sei sinnlos geworden. Der Oberst solle zur anderen Brücke hinübersehen, auf der kämen alle Trains schon zurück. Das spräche deutlich genug.

Der Oberst sah den Divisionär einen Augenblick lang an, dann wandte er sich wieder zur Mannschaft und öffnete den Mund, um zu sprechen. Er hatte jedoch kaum ein paar Worte gesagt, als ein heftiger Hustenanfall ihm unmöglich machte, weiterzureden. Er hielt sich das Taschentuch vor den Mund, dann sagte er, immer noch vom Husten unterbrochen:
„Graf Bottenlauben, sagen Sie es den Leuten.“

Bottenlauben stand in den Bügeln auf. Er überragte uns alle bei weitem und schrie mit seiner stärksten Stimme über die ganze Kolonne hin:
„Wenn das Regiment nicht weitermarschieren wird, so wird Seine Exzellenz auf das Regiment schießen lassen.“

Ein Murmeln, dann ein Durcheinanderschreien, hier und dort vermischt mit Gelächter, folgte. Der Sprecher von früher trieb sein Pferd an Bottenlauben heran und rief:
„Wer wird schießen lassen?“
„Seine Exzellenz!“ schrie Bottenlauben.
„Und wer“, schrie der Mann zurück, „wird schießen?“
„Diejenigen“, entgegnete Bottenlauben, „denen es befohlen werden wird.“

„Und wer“, schrie der Mann, „sollte das sein? Glauben Herr Rittmeister, daß sich in allen vier Regimentern auch nur einer finden wird, der bereit wäre, auf seine Kameraden zu schießen? Oder daß es auch nur irgendeinen unter uns gäbe, der überhaupt noch einen Befehl befolgen wollte?“

„Kerl“, brüllte Bottenlauben, „reite mit deinem schmutzigen Gaul nicht auf mich hinauf, oder du kannst sehen, wo du bleibst!“ und damit schlug er seinem eigenen Braunen die Sporen derart in die Seiten, daß er vorne hochging und den andern förmlich hinaufsprang und ihn, samt dem Pferde, zu Boden warf. Ein ungeheurer Tumult von fluchenden Leuten und auseinanderstiebenden Pferden folgte. Bottenlauben, dem sich vor Empörung jedes Haar am Pelztschako zu sträuben schien, hielt auf dem sich steil aufbäumenden Braunen mitten über dem Gestürzten. Doch ward in diesem Augenblick die allgemeine Aufmerksamkeit von dieser Szene abgelenkt: am Ufer nämlich, von dem wir gekommen waren, brach ein Reiterzug in schärfster Gangart über den Uferdamm gegen die andre Brücke vor. Es war das Regiment Royal Allemand. Es erreichte mit seiner Spitze den anderen Brückenkopf und galoppierte nun auf die Brücke selbst. Dabei brachte es die Trains, die dort inzwischen wieder zu fahren begonnen hatten, in Verwirrung. Sie hielten an, es stockten aber auch die Reiter selbst und bildeten Knäuel zwischen den Fuhrwerken. Doch warfen sie sich alsbald von den Pferden und rannten, mit den Karabinern in der Hand, weiter auf die Brücke hinaus. In kurzer Zeit kamen sie so weit auf dem Strom nach vorn, wie wir selbst auf unserer Brücke gekommen waren. Mehrere hundert Dragoner reihten sich, zu uns gewendet, längs der Brüstung aneinander an und legten ihre Karabiner auf die Brüstung, und auf dem Uferdamm selbst packte die Maschinengewehrschwadron ihre Gewehre ab.

Diese Bewegung, die sich sehr rasch vollzog, war von unsern Leuten zunächst fast ungläubig verfolgt worden. Als sich aber mehr und mehr herausstellte, daß das Regiment Royal Allemand in der Tat bereit schien, auf uns zu feuern, brach unsere ganze Mannschaft in empörte Rufe aus. Der Divisionär und seine Offiziere sprengten jedoch schon die Kolonne entlang und schrien, ob die Leute nun sähen, was erfolgen werde, wenn sie sich nicht sofort zu gehorchen entschlössen. Es gäbe eben noch Regimenter, die wüßten, was ihre Pflicht sei; und wenn die Leute sich nicht bereit fänden weiterzumarschieren, so müsse geschossen werden.

Gleichzeitig jagte vom Ufer her auch schon ein Reiter von Royal Allemand unsre Reihen entlang und rief der Mannschaft zu: Seine Kameraden wüßten sehr wohl, was es hieße, auf Kameraden zu schießen. Sie würden es aber, wenn unsere Leute bei ihrer Haltung verharrten, dennoch tun. Die Leute von Royal Allemand seien Deutsche und würden dem Befehl unter allen Umständen gehorchen. Eine Flut von Verwünschungen überschüttete jedoch ihn und die Offiziere, die die Kolonne entlangsprengten. An einer Stelle ballte sich ein Knäuel von Reitern zusammen, und es schien, als solle der Divisionär tätlich angegriffen werden. In diesem Moment mag er wohl auch den verhängnisvollen Befehl erteilt haben. Jedenfalls hörten wir plötzlich den Ton einer einzelnen, hohen Trompete. Sie blies das Signal: „Schießen!“