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Alexander Lernet-Holenia
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Leseprobe - Mars im Widder (1940)

Mars im Widder - Zsolnay 1997

Mars im Widder
(Auszug)

[...] Eine Völkerwanderung, die nach Millionen zählte, wälzte sich durch Polen. Sie wälzte sich von Westen nach Osten. Sie bestand aus den Armeen, der verfolgten und der verfolgenden, aus fliehenden Trains, aus nacheilendem Troß, aus Eisenbahnzügen, die so lange flüchteten, bis sie an zerstörte Brücken oder 'Weichen kamen, die von Fliegern beworfen waren - zu Tausenden standen dann die Eisenbahnwagen reglos auf den Strecken -, aus Fuhrwerken, deren Gespanne verhungerten und krepierten, und aus den zahllosen Fahrzeugen der nachratternden Kolonnen, aus Panzern, aus Reitern, aus Fußgängern in Uniform und aus solchen in Zivil, die wochenlang rannten und sich immer weiter von den Magazinen entfernten, in denen die Uniformen und die Ausrüstung, die sie hätten erhalten sollen, längst in die Hände der Verfolger geraten waren, aus den sich auflösenden Regimentern der Polen, aus Deserteuren und Marodeuren, aus Leuten, welchen die Stiefel schmerzten, und aus andern, die ihre Stiefel überhaupt fortgeworfen hatten und auf wunden Sohlen weiterliefen, aus Geschlagenen, Verwundeten und Kranken, aus Stadt- und Landbevölkerung, die von den fliehenden Heeren immer weiter nach Osten getrieben und verschleppt ward, übernächtig alle, schmutzig, hungrig, schlaflos die Verfolgenden wie die Verfolgten. Alsbald verkehrte kein Zug mehr im ganzen Land, kein Pferd ward mehr gefüttert, keine Kuh gemolken, brüllend trieb sich das Vieh um die qualmenden Gehöfte. Keine Verbindung bestand mehr, die Divisionen des Feindes verloren völlig den Zusammenhang mit ihren Armeen, die Regimenter mit ihren Divisionen. Schließlich leisteten nur noch vereinzelte Gruppen Widerstand. Aber sie wurden immer wieder geschlagen und weitergehetzt, gerieten in Gefangenschaft, liefen über und verloren Deserteure zu Dutzenden, zu Hunderten, zu Tausenden. Links und rechts der Straßen lag alles voll von fortgeworfenen Waffen und Munition, umgestürzten Geschützen und Automobilen. Verendete Pferde mit aufgeblähten Bäuchen verpesteten die Luft, in der Gegend von Rzeszow fand man, in einem Graben, sogar einen toten Elefanten.

Keine Fensterscheibe war mehr ganz, kein Mann mehr rasiert, keine Frau gekämmt, das Vieh brach auf der Flucht die Beine, als habe es Knochen aus Butter, wie von selber gingen Dörfer in Flammen auf, es gab kein Essen mehr, keine Zigaretten, keine Getränke. Sogar die kraquelierten Siphonflaschen fanden sich nirgends mehr. Die Häuser standen leer oder gingen über von Flüchtenden, kein Regiment erhielt mehr Verpflegung, die Gefangenen sagten aus, sie hätten tagelang nur von dem gelebt, was sie bei den Bauern erbettelt. Aber die Bauern besaßen selbst nichts mehr. Alle Straßengräben waren voll Unrat, das ganze Land schien bei lebendigem Leibe in Verwesung übergegangen, von einem Hundert Soldaten standen nicht mehr zehn bei den Fahnen, es war der beispielloseste oder zumindest jäheste Zusammenbruch aller Zeiten. Und über dieses Chaos blickten, auf den Straßen und Plätzen der Städte, mit starrem Ausdruck die Denkmäler der Politiker und Künstler der Vorzeit.

Alle Welt hatte Häuser und Wohnsitze verlassen, zu Millionen wälzte sich das ganze Volk, ohne Gepäck, ohne die notwendigsten Lebensmittel, unbestimmten Befehlen oder Hoffnungen folgend, ostwärts. Das ging bis gegen die Mitte des September. Danach begann die ganze Flucht sich, vor den Russen, die inzwischen gleichfalls in den Krieg getreten waren, wieder westwärts zu wälzen. Es strömte alles zurück, kam zum Stillstand und blieb, zwischen dem Bug und dem San ungefähr, eingeklemmt. Hier wurden von seiten der Polen auch Taten wirklicher Tapferkeit verrichtet. Es gab manche, vor allem Offiziere, die sich bis zum letzten zur Wehr setzten. Aber sie wußten nicht, daß sie längst verloren seien. Sie waren seit Wochen ohne wirkliche Nachrichten, sie meinten, weiter im Norden hätten ihre Armeen Berlin längst erreicht... Sie ahnten noch nichts vom Vormarsch der Russen, sie wußten überhaupt nichts. Sie glaubten überall siegreich zu sein -zwei Stunden später waren sie gefangen. Manche aber zogen den Tod der Gefangenschaft vor, und von den Offizieren der Truppen, die auch im Osten auf den Feind stießen, erschossen sich Hunderte.

Die ganze Katastrophe spielte sich bei glühender Hitze ab. Es gab Tage, die heiß waren wie im Juli, ja noch heißer, es war, als sei die Sonne wie ein Vulkan ausgebrochen und verzehre die Erde mit ihrem Feuer. Es fiel kein Tropfen von jenem Regen, auf den die Polen so sehr gehofft und der den Boden grundlos gemacht hätte, so daß die motorisierten Kolonnen darin versunken wären. Statt dessen gab es nichts als Staub. Er war auf den Feldwegen gelblich, auf den Straßen bläulichweiß und von süßlichem Geruch oder Gestank, vor allem nachts. Er war fußtief, knöcheltief, knietief. Als man den San überschritten hatte - oder, eigentlich, schon als man sich ihm näherte -, ward der Staub ungeheuerlich. Es gab Landstriche, zum Beispiel gegen Wolhynien zu, in denen ein Meer von Staub, wie eine Flüssigkeit, zwischen steinigen Hügeln stand, die in der Sonne bleichten wie Haufen von Totenknochen. Und wo das Gestein violett war, schien es, als verwesten darauf die Sehnen. Der Staub hüllte alles ein, er legte sich, als ob man damit, wie mit Wasser, bespritzt würde, in dicken Schichten auf die Gesichter und Uniformen, er drang, angezogen wie von etwas Kapillarem, in feinsten Teilen überallhin, er legte sich in die Uhren, in die Schlösser der Waffen und in die Vergaser der Motoren, die Luftfilter mußten alle paar Stunden gereinigt werden. Die Mannschaft hatte die Waffen mit Lappen umwickelt und Tücher vor die Gesichter gebunden, die Augen entzündeten sich, alle Welt lag unter der Staubschicht wie Leichen. In den Fahrzeugen häufte er sich, als hätten Meereswellen ihn, wie Sand, hinterlassen. Er stieg in riesigen Wolken auf, er bäumte sich wie Türme, er ballte sich wie Gewitter. Das ganze Land war überweht von den Schleiern, in die er sich auflöste und aus denen er herabrieselte wie Regen. Man konnte nichts essen, ohne daß er auf den Zähnen geknirscht hätte, nichts anrühren, ohne in Staub zu greifen, es war, als solle den Menschen vor Augen gehalten werden, daß sie selber bloß Staub seien, nichts als Staub. [...]