Phantastik und Heraldik
Überlegungen zu A. Lernet-Holenias Roman Der Graf Luna
Jean-Jacques Pollet
(aus Winfried Freund, Johann Lachinger und Clemens Ruthner: Der Demiurg ist ein Zwitter, Wilhelm Fink Verlag)
(aus Winfried Freund, Johann Lachinger und Clemens Ruthner: Der Demiurg ist ein Zwitter, Wilhelm Fink Verlag)
Von den Daten her gehört Der Graf Luna, der letzte phantastische Roman Alexander Lernet-Holenias, wohl zur sogenannten 'littérature d'actualité' - der gegenwartsbezogenen Literatur. 1955 veröffentlicht, handelt er nämlich retrospektiv von einer Geschichte, die um das Jahr 1940 in Wien anfängt und im Mai 1954 in Rom ihren Abschluß findet. Dieser geschichtliche Rahmen erlaubt dem Romancier, auf das, was er selber "die Besetzung des Landes durch die Deutschen" nennt (GL 36), zurückzukommen; und das Urteil, das er über diese Periode fällt, entspricht ganz genau seinem schon im vorangegangenen Roman Der Graf von Saint-Germain geäußerten Denken. Diese 1948 erschienene Fiktion parallelisiert nämlich das Schicksal der Hauptgestalt, des weltfernen Ästheten Philipp Branis, mit dem des Kaufmannssohnes des Märchens der 672. Nacht Hofmannstals, das der Text A. Lernet-Holenias fast wörtlich übernimmt: Die Nazi-Wirklichkeit spielt für Branis dieselbe Rolle wie die fremde, tückische Stadt für den jungen Kaufmannssohn, nämlich die eines verhängnisvollen Erlebnisses der Häßlichkeit der Welt. Eine ähnliche Meinung vertritt die Hauptfigur von Der Graf Luna, ein gewisser Alexander Jessiersky, der Industrieller wie Philipp Branis ist. Er braucht sich wie dieser nicht viel um seine Geschäfte zu kümmern, weil das mütterlicherseits geerbte Transportunternehmen "von selbst lief" (GL 36). Mit dem Nazi-Alltag konfrontiert, "ging ihm zum erstenmal eine Ahnung von der wirklichen Häßlichkeit des Lebens auf" (GL42).
Während aber die Geschichte des Philipp Branis 1938 endet, umfaßt die von Alexander Jessiersky die darauf folgenden Jahre, die des nazistischen Österreich, des militärischen Zusammenbruchs, der 'Befreiung' und der Besatzung durch die Alliierten, des beginnenden kalten Krieges und wirtschaflichen Wiederaufbaus im Rahmen der Marshallplan-Hilfe. Auffallend ist, daß die Neuordnung der ersten Nachkriegsjahre vom Standpunkt Alexander Jessierskys aus - und wohl auch des Romanciers - die prinzipielle Häßlichkeit des Wirklichen nicht aufhebt, ganz im Gegenteil. Mit völliger Illusionslosigkeit vermerkt er, daß die amerikanische Besatzungsmacht sehr früh begann, sich von den innenpolitischen Problemen der Bevölkerung abzuwenden, um allein ihr eigenes, wirtschaftliches sowie außenpolitisches Interesse gegen ihren bisherigen sogenannten Verbündeten im Osten zu verteidigen, und damit also sehr bald zu verstehen gab, daß "der Kampf gegen das Dritte Reich in der Tat nur etwas vorübergehend Überschätztes gewesen sei" (GL 60). Dies bekräftigt ihn in der Überzeugung, daß die Welt von heute "eine Welt von Händlern geworden ist, die bloß zwischendurch Kriege führen" (GL 55). Voll höhnender Verachtung spottet er außerdem über das Anpassungsvermögen von einigen seiner Landsleute, die sehr schnell einsahen, daß "die Politik im Begriffe sei, den Spieß, den sie eben umgedreht hatte, neuerlich, d.h. in seine alte Richtung, umzudrehen" (GL 69) und sogar so weit gingen, sich öffentlich nach der guten Zeit zu sehnen, da "die Organisation nicht versagte" (GL 77). Der Verfallsprozeß, der aus der Sicht Lernet-Holenias bekanntlich mit dem Ende der Monarchie eingesetzt hat - dieses Gestern ist der Hauptbezugspunkt all seiner Romane - und in dessen Lauf das Hitlerregime, die Niederlage und das Chaos der Nachkriegszeit nur Etappen bilden, scheint also unwiederbringlich zu sein. Das Urteil wird aber hier - vergleicht man mit Die Standarte (1934), z.B. - ohne Nostalgie und vor allem nicht von einem "reaktionären" Aristokraten ausgesprochen, sondern, wie in Der Graf von Saint-Germain, gerade von einem "Händler", der an der Entwicklung der neuen Zeit teilhat und seinen Bedenken zum Trotz sogar zynisch davon profitiert. Paradox, und nicht mehr fremd, steht nun der Holeniasche Held der Gegenwart gegenüber.
Angesichts der Häßlichkeit der Welt bzw. der Realität des Faschismus erscheint nun Alexander Jessiersky auf jeden Fall viel schlimmer kompromittiert als Philipp Branis. Die Tatsachen sind folgende: Nach der Eingliederung Österreichs in das Dritte Reich konnte sich selbst dieser "hartnäckig Untätige" der allgemeinen Sucht, tätig zu sein, nicht erwehren. Um das Jahr 1940 überredeten ihn seine Direktoren, bestimmte Grundstücke für die Errichtung neuer Lagerhäuser zu erwerben. Diese Grundstücke gehörten einem gewissen Grafen Luna, der sich bald weigerte, die von seiner Mutter geerbten Güter zu verkaufen; Jessierskys Direktoren erklärten sich aber bereit, ihn dazu zu zwingen - was sei schließlich der Wunsch eines einzelnen "gemessen am Expansionsbedürfnis eines großen Unternehmens!" (GL 38). Obwohl Jessiersky damit nicht übereinstimmte, ließ er seine Leute gewähren. Als er erfuhr, daß der Graf Luna nicht nur enteignet, sondern durch die Geheime Staatspolizei in das Zwangsarbeitslager Mauthausen geschickt worden war, erwachte er aus seiner Gleichgültigkeit, aber da war es schon zu spät. Er setzte nun alles in Gang, um Luna freizubekommen, aber vergeblich. Sogleich nach dem Zusammenbruch gehörte es für Jessiersky zu den ersten Dingen, Erkundigungen einzuziehen, ob Luna lebend davongekommen sei. Wiederum ohne Erfolg: Der Gesuchte fand sich nicht "unter den lebenden Skeletten", "es blieb nur noch der Schluß übrig, daß er, in der allgemeinen Verwirrung der letzten Kriegswochen, verhungert war oder ermordet worden sein mochte, und daß man ihn, ohne ihn zu registrieren, verbrannt, beziehungsweise verscharrt hatte, unbekannt wo" (GL 59).
Alexander Jessiersky wurde also zum Mitschuldigen "aus Indolenz" (GL 38): "er sagte sich, daß er, wenngleich er persönlich nichts getan hatte, oder eben deshalb, alles versäumt habe, was wirklich zu tun gewesen wäre" (GL 39). Das, was in einem ästhetisierenden Weltbild unter Umständen als eine mehr oder weniger positive Eigenschaft hätte gelten können, insofern als sie ein distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit impliziert und dem Betroffenen es erlaubt, Inicht ganz im Gegenständlichen verfangen zu sein" (GL 26), wird hier, am Beispiel des Helden, als fragwürdig hingestellt. Indolenz ist tatsächlich bei Alexander Jessiersky kein Merkmal von Überlegenheit, sondern vielmehr eines Mangels, der sich aus der frühen Kindheit herleitet: "Man könnte sich fragen, wen denn der Knabe überhaupt liebte. Er liebte niemanden. Er war eines jener Kinder, die sehr bald zu merken haben, daß sie nur für sich allein da sind. Ohne Träumer zu sein, haben sie wenig oder kaum Beziehung zur Welt, wie sie ist - eher noch zu einer Welt, wie sie gewesen" (GL 23). Es ist, als ob Lernet-Holenia mit dem Fall Alexander Jessierskys vor einem Mißverständnis der ästhetisch-aristokratischen Haltung warnen wollte: Distanziertheit darf nicht auf Unverantwortlichkeit hinauslaufen.
Von dem Augenblick an, da Luna als "verschollen- gilt - das heißt unter den Lebenden nicht mehr zu finden ist, ohne jedoch offiziell zu den Toten zu zählen -, setzt das Phantastische ein. Der sich schuldig fühlende Alexander Jessiersky wird sich in der Nachkriegszeit den Nachstellungen des 'untoten' Luna ausgesetzt wähnen.
Während aber die Geschichte des Philipp Branis 1938 endet, umfaßt die von Alexander Jessiersky die darauf folgenden Jahre, die des nazistischen Österreich, des militärischen Zusammenbruchs, der 'Befreiung' und der Besatzung durch die Alliierten, des beginnenden kalten Krieges und wirtschaflichen Wiederaufbaus im Rahmen der Marshallplan-Hilfe. Auffallend ist, daß die Neuordnung der ersten Nachkriegsjahre vom Standpunkt Alexander Jessierskys aus - und wohl auch des Romanciers - die prinzipielle Häßlichkeit des Wirklichen nicht aufhebt, ganz im Gegenteil. Mit völliger Illusionslosigkeit vermerkt er, daß die amerikanische Besatzungsmacht sehr früh begann, sich von den innenpolitischen Problemen der Bevölkerung abzuwenden, um allein ihr eigenes, wirtschaftliches sowie außenpolitisches Interesse gegen ihren bisherigen sogenannten Verbündeten im Osten zu verteidigen, und damit also sehr bald zu verstehen gab, daß "der Kampf gegen das Dritte Reich in der Tat nur etwas vorübergehend Überschätztes gewesen sei" (GL 60). Dies bekräftigt ihn in der Überzeugung, daß die Welt von heute "eine Welt von Händlern geworden ist, die bloß zwischendurch Kriege führen" (GL 55). Voll höhnender Verachtung spottet er außerdem über das Anpassungsvermögen von einigen seiner Landsleute, die sehr schnell einsahen, daß "die Politik im Begriffe sei, den Spieß, den sie eben umgedreht hatte, neuerlich, d.h. in seine alte Richtung, umzudrehen" (GL 69) und sogar so weit gingen, sich öffentlich nach der guten Zeit zu sehnen, da "die Organisation nicht versagte" (GL 77). Der Verfallsprozeß, der aus der Sicht Lernet-Holenias bekanntlich mit dem Ende der Monarchie eingesetzt hat - dieses Gestern ist der Hauptbezugspunkt all seiner Romane - und in dessen Lauf das Hitlerregime, die Niederlage und das Chaos der Nachkriegszeit nur Etappen bilden, scheint also unwiederbringlich zu sein. Das Urteil wird aber hier - vergleicht man mit Die Standarte (1934), z.B. - ohne Nostalgie und vor allem nicht von einem "reaktionären" Aristokraten ausgesprochen, sondern, wie in Der Graf von Saint-Germain, gerade von einem "Händler", der an der Entwicklung der neuen Zeit teilhat und seinen Bedenken zum Trotz sogar zynisch davon profitiert. Paradox, und nicht mehr fremd, steht nun der Holeniasche Held der Gegenwart gegenüber.
Angesichts der Häßlichkeit der Welt bzw. der Realität des Faschismus erscheint nun Alexander Jessiersky auf jeden Fall viel schlimmer kompromittiert als Philipp Branis. Die Tatsachen sind folgende: Nach der Eingliederung Österreichs in das Dritte Reich konnte sich selbst dieser "hartnäckig Untätige" der allgemeinen Sucht, tätig zu sein, nicht erwehren. Um das Jahr 1940 überredeten ihn seine Direktoren, bestimmte Grundstücke für die Errichtung neuer Lagerhäuser zu erwerben. Diese Grundstücke gehörten einem gewissen Grafen Luna, der sich bald weigerte, die von seiner Mutter geerbten Güter zu verkaufen; Jessierskys Direktoren erklärten sich aber bereit, ihn dazu zu zwingen - was sei schließlich der Wunsch eines einzelnen "gemessen am Expansionsbedürfnis eines großen Unternehmens!" (GL 38). Obwohl Jessiersky damit nicht übereinstimmte, ließ er seine Leute gewähren. Als er erfuhr, daß der Graf Luna nicht nur enteignet, sondern durch die Geheime Staatspolizei in das Zwangsarbeitslager Mauthausen geschickt worden war, erwachte er aus seiner Gleichgültigkeit, aber da war es schon zu spät. Er setzte nun alles in Gang, um Luna freizubekommen, aber vergeblich. Sogleich nach dem Zusammenbruch gehörte es für Jessiersky zu den ersten Dingen, Erkundigungen einzuziehen, ob Luna lebend davongekommen sei. Wiederum ohne Erfolg: Der Gesuchte fand sich nicht "unter den lebenden Skeletten", "es blieb nur noch der Schluß übrig, daß er, in der allgemeinen Verwirrung der letzten Kriegswochen, verhungert war oder ermordet worden sein mochte, und daß man ihn, ohne ihn zu registrieren, verbrannt, beziehungsweise verscharrt hatte, unbekannt wo" (GL 59).
Alexander Jessiersky wurde also zum Mitschuldigen "aus Indolenz" (GL 38): "er sagte sich, daß er, wenngleich er persönlich nichts getan hatte, oder eben deshalb, alles versäumt habe, was wirklich zu tun gewesen wäre" (GL 39). Das, was in einem ästhetisierenden Weltbild unter Umständen als eine mehr oder weniger positive Eigenschaft hätte gelten können, insofern als sie ein distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit impliziert und dem Betroffenen es erlaubt, Inicht ganz im Gegenständlichen verfangen zu sein" (GL 26), wird hier, am Beispiel des Helden, als fragwürdig hingestellt. Indolenz ist tatsächlich bei Alexander Jessiersky kein Merkmal von Überlegenheit, sondern vielmehr eines Mangels, der sich aus der frühen Kindheit herleitet: "Man könnte sich fragen, wen denn der Knabe überhaupt liebte. Er liebte niemanden. Er war eines jener Kinder, die sehr bald zu merken haben, daß sie nur für sich allein da sind. Ohne Träumer zu sein, haben sie wenig oder kaum Beziehung zur Welt, wie sie ist - eher noch zu einer Welt, wie sie gewesen" (GL 23). Es ist, als ob Lernet-Holenia mit dem Fall Alexander Jessierskys vor einem Mißverständnis der ästhetisch-aristokratischen Haltung warnen wollte: Distanziertheit darf nicht auf Unverantwortlichkeit hinauslaufen.
Von dem Augenblick an, da Luna als "verschollen- gilt - das heißt unter den Lebenden nicht mehr zu finden ist, ohne jedoch offiziell zu den Toten zu zählen -, setzt das Phantastische ein. Der sich schuldig fühlende Alexander Jessiersky wird sich in der Nachkriegszeit den Nachstellungen des 'untoten' Luna ausgesetzt wähnen.
Literatur
- Lernet-Holenia, Alexander: Der Graf Luna. Zitiert als GL nach der Ausgabe: Wien und Hamburg: Paul Zsolnay 1981.
- Berg, Stephan: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1991.
- Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.
- Müller, Hans-Harald: Structure narrative et interpritation du roman 'Le Tour du cadran'. In: Pollet, Jean-Jacques (Hrsg.): Leo Perutz ou Vironie de l'Histoire. Rouen: PUR 1993, S, 78-93.
- Ruthner, Clemens: Wort-Magie. Glossen zum 'phantastischen' Erzählen in Österreich nach 1945 (H.C. Artmann, Th. Bernhard). In: Auckenthaler, Karlheinz (Hrsg.): Die Zeit und die Schrift. Österreichische Literatur nach 1945. Szeged: University Press 1993 (Acta Germanica 4), S. 175-185.