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Alexander Lernet-Holenia
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Revolution als Form des Übergangs zu einer neuen Realität in den Werken von Alexander Lernet-Holenia

Svetlana V. Balaeva

Kunstgewerbeakademie, St. Petersburg, 2018

Die Geschichte der Revolutionen in Österreich-Ungarn und in Russland ist eng mit den Ereignissen des Ersten Weltkriegs verbunden. In den Werken des österreichischen Schriftstellers Alexander Lernet-Holenia (1897–1976) vollzieht sich, meiner Meinung nach, der Übergang von der Habsburgermonarchie zur neuen Gesellschaftsordnung und damit zu einer neuen Realität in erster Linie im Bewusstsein der Protagonisten. Gleichzeitig zeigt er auch den Übergang zu einer neuen Weltordnung und zum heutigen Europa ohne große Kaiserreiche, aber bestehend aus vielen Nationalstaaten.

Bei Lernet-Holenia vollzieht sich dieser Prozess des Übergangs als Revolution in den Köpfen der Menschen. Diese Revolution ist schwer zu beschreiben, aber sie passiert rasch. Von einem Moment auf den nächsten wird dem Protagonisten bewusst, dass er nicht mehr so ist wie vorher. Er ist ganz neu, und diese Neuigkeit ängstigt ihn und führt zu verschiedenen merkwürdigen Situationen. Für Lernet-Holenia liegt gerade der Prozess des Übergangs im Zentrum der Geschichte. Er spricht nicht über Resultate und bewertet die Ereignisse nicht. Er beschreibt nur diese kommende neue historische Realität und macht das auf besondere Art und Weise.

Den gröβten Erfolg hat Lernet-Holenia in den 1930er Jahren mit seinen Romanen „Die Standarte“ (1934), „Der Baron Bagge“ (1936) und „Ein Traum in Rot“ (1939). Die Protagonisten in diesen Werken sind jeweils eng mit der Armee verbunden, unter anderem als Soldat. In der Militärprosa von Henri Barbusse, Ernst Jünger und Erich Maria Remarque explodieren Bomben neben den Helden, über ihren Köpfen fliegen Flugzeuge, viele sterben. Der Tod hat kein Gesicht, im Vergleich zu vorigen Epochen, als die Ritter oder Soldaten genau wussten, wer oder was sie tötete.

Lernet-Holenia stellt den Ersten Weltkrieg wie im Abenteuerroman dar, aber ohne den romantischen Glanz, der in dieser Gattung sonst üblich ist. Lernet-Holenia vermeidet naturalistische Beschreibungen, er hält sich beim Rahmen an die historischen Ereignisse. Der Krieg ist aber kein unterhaltsames Abenteuer, in dem der Protagonist zum Helden stilisiert wird. In diesem Sinn setzen sich Lernet-Holenias Texte von den „Landserromanen“ bzw. literarischen Werken ab, die den Krieg als eine Angelegenheit von echten Männern loben [Nutz 1977].

Der Roman „Die Standarte“ ist historisch am Ende des Ersten Weltkrieges angesiedelt und erzählt die Zerschlagung Österreich-Ungarns aus der Perspektive eines jungen Fähnrichs. Auch in der Novelle „Der Baron Bagge“ steht der Krieg im Zentrum, aber hier geschieht alles im Traum, oder besser gesagt im Alptraum und erinnert damit an Ambrose Bierces Kurzgeschichte „Zwischenfall auf der Eulenfluß-Brücke“ (An Occurrence at Owl Creek Bridge, 1891). „Ein Traum in Rot“ ist Ereignissen nach der Russischen Revolution 1917 gewidmet.

Bei der Untersuchung, wie der Übergang zur neuen Realität in der österreichischen Literatur gestaltet wird, ist es produktiv, diese Frage aus dem Blickwinkel der von Claudio Magris umrissenen Konzeption des habsburgischen Mythos zu betrachten. Magris zeigt sehr deutlich, wie die österreichische Literatur auf den Zerfall von Österreich-Ungarn reagiert, und geht auch auf den Prozess des Übergangs ein. Nach Magris ist „der habsburgische Mythos“ „nicht ein einfacher Prozess der Verwandlung des Realen, wie er jede dichterische Tätigkeit charakterisiert, sondern er bedeutet, dass eine historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit vollständig durch eine fiktive, illusorische Realität ersetzt wird, dass eine konkrete Gesellschaft zu einer malerischen, sicheren und geordneten Märchenwelt verklärt wird“ [Magris 2000: 22]. Ein Beispiel für die Verklärung liefert Joseph Roth in seinem Roman „Radetzkymarsch“ mit der idealisierten Beschreibung Österreichs vor dem Ersten Weltkrieg: „Damals, vor dem groβen Kriege, […] war es noch nicht gleichgültig, ob ein Mensch lebte oder starb. […] Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden […] man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen“ [Roth 1994: 141].

Die Habsburgermonarchie hatte das Ziel, eine neue Reichsnation zu schaffen, sie verlangte von ihren Untertanen, dass sie nicht nur „Deutsche, Ruthenen, Polen seien, sondern etwas Gröβeres und Höheres“, sie beanspruchte „ein wahres und eigenschaftliches Sacrificum nationis“, einen „Verzicht auf bequeme Selbstbehauptung, einen Verzicht auf das erregende Aufgehen in den Instinkten des eigenen Blutes“, durch diesen Verzicht sollte sich der Mensch „aus einen Deutschen, Tschechen oder was immer er war […] in den Österreicher“ verwandeln, schreibt Werfel [Werfel 1975: 331–332].

Aber durch die Revolution in Österreich-Ungarn kehrte dieser Prozess sich um. Lernet-Holenia zeigt, wie dieser Prozess mit einer Umwertung der Werte einherging. In seinen Werken besitzt der Protagonist alle Eigenschaften, die der ‚echte Soldat‘ (Ritter) haben sollte: Ehrgefühl, Anstand, Eidestreue; außerdem ist er erfüllt vom Glauben an das Reich. Im Roman „Die Standarte“ beschreibt der Autor, wie dieser Glaube vergeht:

Wir glaubten vielleicht selber nicht an das Reich, wie wir daran hätten glauben sollen. […] Manchmal reiβen die Menschen selbst Gebäude ein, die Generationen vor ihnen errichtet haben, und zerstören sie, als wäre es nichts. Die Menschen verlieren ja manchmal ganz plötzlich allen Sinn für den Wert der Dinge. Bloβ um sich die Hände zu wärmen, zünden sie dann königliche Schlösser an [Lernet-Holenia 1977: 100].

Lernet-Holenia schreibt keine modernistischen Romane, in allen drei Werken („Die Standarte“, „Der Baron Bagge“, „Ein Traum in Rot“) benutzt er das gleiche, einfache Kompositionsschema: in der Gegenwart passiert etwas, das einen der Helden eine alles erklärende Geschichte aus der Vergangenheit erzählen lässt. Diese Texte sind insofern historische Romane bzw. Novellen, als sie in einer realen historischen Situation spielen. In allen Werken beschreibt Lernet-Holenia reale Ereignisse, Schlachten und Märsche, Personen und Regimente. In den Texten „Die Standarte“ und „Der Baron Bagge“ spiegelt sich die persönliche Erfahrung des Schriftstellers wider, der zuerst als Soldat und dann als Offizier am Ersten Weltkrieg teilnahm. Wie der Protagonist in „Die Standarte“ ahnte er das Ende des österreich-ungarischen Reiches während des Ersten Weltkriegs voraus. Wie der Held in „Der Baron Bagge“ war er nur einen Schritt vom Tod entfernt.

Seine Erfahrungen während des Russlandfeldzugs im Ersten Weltkrieg flossen in den Roman „Ein Traum in Rot“ ein. In diesem Roman wird gerade zur Zeit der Oktoberrevolution der Antichrist mit dem vielbedeutenden Namen Wladimir Iljitsch geboren.

Die Geschichte zwischen den beiden Weltkriegen wird in den Werken von Lernet-Holenia als Apokalypse der österreichischen und europäischen Welt dargestellt. Im Zentrum der Novelle „Der Baron Bagge“ steht die koranische Brücke „Es Sireth“, die aus dem Tod (aus unserer materiellen Welt) ins Leben (der Seele) führt. Im Roman „Ein Traum in Rot“ werden in dialogischer Form die Geschichte der letzten Tage und der Ankunft des Antichrist auf der Erde inszeniert. Der Übergang zur neuen Realität führt den Protagonisten durch die Revolution in eine neue, reale oder irreale Welt, wodurch sich dem Leser die Frage stellt, ob er es hier mit Wirklichkeit oder Traum zu tun hat.

Hartmut Scheible macht als Hauptcharakteristikum der Erzählung das „Ineinander von Realität und Unwirklichkeit“ aus [Scheible 1972: 279]. Laut Scheible gelingt dem Autor die Verschränkung von „realistischem Traum und traumhafter Realität“ am überzeugendsten in der Novelle „Der Baron Bagge“. Josef Halperin macht darauf aufmerksam, dass des Dichters erzählerisches Werk „eine Fülle von […] Visionen [und] Träumen“ enthalte, und gibt als die beiden wichtigsten Motive, die Lernet-Holenia immer wieder bearbeitet, „Vorzeit und Traum“ an [Halperin 1947: 457]. Armin Ayren hält das Übersinnliche, das vom Traum über parapsychologische Erscheinungen und Entrückungen bis in jenes Zwischenreich zwischen Leben und Tod führt, für eines der wichtigsten Themen bei Lernet-Holenia und bezeichnet den Autor als einen „Dichter des Traums von neuer Art und hohem Rang“ [Ayren 1967: 127].

Gelegentliche Überschneidungen wie die Fieberphantasie des Barons Bagge während einer kurzen Bewusstlosigkeit nach seiner Verwundung zeigen, wie nahe Realität und Traumwelt in der menschlichen Wahrnehmung beieinanderliegen können. Man kann behaupten, dass Lernet-Holenias Darstellung des Zwischenreichs zwischen Leben und Tod der Konzeption von Ernst Mach über Traum und Wirklichkeit nahesteht. William M. Johnston zitiert Ernst Machs Befunde der „Beiträge zur Analyse der Empfindungen“ (1886): „Wenngleich unser Empfindungsapparat notwendigerweise das Wahrgenommene verzerre, so gehe uns doch ein Kriterium zur Unterscheidung von Eindruck und Realität ab“ [Johnston 2012: 193].

Lernet-Holenia ist nicht der einzige Autor, der diesen Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit ins Zentrum seiner Werke stellt. 1918 veröffentlicht Leo Perutz den Roman „Zwischen 9 und 9“, in dem sich die Sekunde vor dem Tod auf mehrere Stunden dehnt. Perutz übernimmt die Grundidee aus der Kurzgeschichte des amerikanischen Schriftstellers Ambrose Bierce „Zwischenfall auf der Eulenfluss-Brücke“ (1891). In „Der Baron Bagge“ wendet Lernet die gleiche Methode an, weicht aber an einer entscheidenden Stelle vom Vorbild ab: der Leser weiβ von vornherein, dass diese Geschichte für den Protagonisten schon in der Vergangenheit liegt. Die Illusion des guten Ausgangs ist das Hauptthema in Lernets Werken. Lernet-Holenia „tötet“ seinen Helden nicht, er lässt ihn unter seinen Erinnerungen leiden. Der Autor hoffte, dass die Leser sein Werk im Kontext der Gegenwartsgeschichte verstehen würden: „Was ich je geschrieben habe, wird man einst, so glaube ich, nicht mit dem Maβstäben der Literatur, sondern der Geschichte messen. An sich ist’s, so viel es ist, nicht viel; aus dem Blickwinkel der Ereignisse gesehen aber ist’s fast alles“ [Lüth 1988: 399].

Lernet-Holenia schafft ein „Zwischenreich“ in jener Region, in der sich Traum und Wirklichkeit auf die für den Autor typische Weise vermischen. Für ihn liegt diese Zwischenzeit nicht nur am Ende des Ersten Weltkriegs oder in der Zeit der russischen und österreichischen Revolution. Der Übergang zur neuen Realität ist für ihn auch in den 1930er Jahren noch nicht abgeschlossen. Was dieser komplizierte Moment in der Geschichte ausgelöst hat, dauert weiter an. Die neue Wirklichkeit ist noch nicht geschaffen, der Krieg und die Revolution lassen die Menschen in einem neuen unbestimmten Zwischenreich leben. 1941 schreibt Lernet-Holenia an Alfred Kubin: „jene Zwischenzeit zwischen den zwei Großen Kriegen war damals zu Ende, und mit ihr all das eigentümlich unwirkliche, vielleicht überwirkliche Leben der Zwischenzeit, die mir immer mehr wie ein Traum scheint. Denn in Wahrheit: ich glaube jetzt, das Leben fortzusetzen, wo die Zeit, etwa 1917, ins Irreale abgeglitten ist“ [Lernet-Holenia 1941]. Also wurde die Zwischenzeit zwischen beiden Weltkriegen seiner Meinung nach sozusagen aus der Geschichte „geworfen“ und wirkte traumhaft.

Die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg kann man folglich als „Schwelle“ in der Geschichte bezeichnen. In den Romanen wird diese Rolle der Schwelle durch die Brücke, das Niemandsland, das Zwischenreich, die Erde zwischen beiden Fronten und die Erde ohne Geschichte verkörpert, wie es in „Ein Traum in Rot“ der Fall ist, weil für die Helden des Romans nach der Russischen Revolution 1917 die Geschichte zu Ende ist und sie sich in einer Art Niemandsland wiederfinden.

Die Standarte“ und „Der Baron Bagge“ lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Geschichte, auf die Vergangenheit, die Lernet-Holenias Protagonisten teurer ist als die Gegenwart. Relevant sind in dieser Hinsicht kulturhistorische und literarische Quellen, die für Lernet-Holenia wichtig waren. Eine besondere Rolle spielt hierbei „Die Weise von Liebe und Tod des Kornets Christopher Rilke“ (1906) von Rainer Maria Rilke. Der Kornet, der „die Standarte im Arm“ trägt, ist der Held von Lernet-Holenias „Szene als Einleitung zu einer Totenfeier für Rainer Maria Rilke“ (1935). In dieser „Szene“ will der Kornet den Dichter Rilke mitnehmen, aber nach seinem Tod gehört der Dichter Rilke nicht der Geisterwelt an, sondern dem Geist allein. Thematisch bearbeitet Lernet-Holenia Rilkes Novelle in „Die Standarte“ und in „Der Baron Bagge“. Sowohl in „Die Weise von Liebe und Tod des Kornets Christopher Rilke“ als auch in „Die Standarte“ und „Der Baron Bagge“ verstrickt sich das Schicksal des Haupthelden mit der Geschichte. An einer Stelle, an der er eigentlich über die Zukunft Österreichs reflektiert sagt Lernet-Holenia 1945: „wir sind, im besten und wertvollsten Verstande, unsere Vergangenheit, wir haben uns nur zu besinnen, daß wir unsere Vergangenheit sind — und sie wird unsere Zukunft“ [Lernet-Holenia 1945: 109].

Literatur

Ayren 1967 — Ayren A. Alexander Lernet-Holenia 70 Jahre // Neue Deutsche Hefte. Nr. 14. 1967. S. 116–130.
Halperin 1947 — Halperin J. Alexander Lernet-Holenia. Zum 50. Geburtstag — 21. Oktober 1947 // Neue Rundschau. Nr. 58. 1947. S. 456–465.
Johnston 2012 — Johnston W.M. Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte: Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938. Wien; Köln; Weimar, 2012.
Lernet-Holenia 1941 — Lernet-Holenia A. Brief an Alfred Kubin, 07.04.1941 // Sammlung von Roman Roček. Wien, 1941.
Lernet-Holenia 1945 — Lernet-Holenia A. Gruβ des Dichters // Der Turm 1945. Nr. 1, 4, 5. 1945. S. 109.
Lernet-Holenia 1977 — Lernet-Holenia A. Die Standarte. Roman. Wien, 1977.
Lüth 1988 — Lüth R. Drommetenrot und Azurblau: Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Meitingen, 1988.
Nutz 1977 — Nutz W. Der Krieg als Abenteuer und Idylle. Landserhefte und triviale Kriegsromane // Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit / Hrsg. von H. Wagener. Stuttgart, 1977. S. 265–283.
Magris 2000 — Magris C. Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien, 2000.
Roth 1994 — Roth J. Radetzkymarsch // Joseph Roth Werke. In 6 Bdn. Bd. 5. Romane und Erzählungen 1930–1936. Köln, 1994.
Scheible 1972 — Scheible H. Suche nach Identität und Protest gegen Geschichte: Naturgeschichte des Snobs — Aufzeichnungen zu Alexander Lernet-Holenia // Frankfurter Hefte. Nr. 4. 1972.
S. 275–283.
Werfel 1975 — Werfel F. Zwischen Oben und Unten. München; Wien, 1975.