Rüdiger Görner über Alexander Lernet-Holenia: Das lyrische Gesamtwerk. Hrsg. von Roman Rocek. Wien: Zsolnay 1989.
schreibt in der Tageszeitung 'Neue Zürcher Zeitung' (Nr. 225, 29.9.1989, S. 155)
'In der Lyik', schrieb Oskar Loerke in seinem bekenntnishaften Essy Das alte Wagnis des Gedichts, 'zeigen sich alle Lebensfragen als Fragen der Form'. Wie eindringlich sich Alexander Lernet-Holenia (1897-1972) seit seinen lyrischen Anfängen, die auf die frühen zwanziger Jahre zurückgehen, diesen Fragen gestellt hat, lässt sich anhand der sorgfältig editierten Ausgabe seines lyrischen Gesamtwerks nachvollziehen. Spielerisch schien er die kompliziertesten Formen zu handhaben: asklepiadeische Strophen so sicher wie einst Kopstock, Hölty und Hölderlin, Sonette so souverän und variantenreich wie sein grosser Mentor Rilke, Hymnen und Elegien im Stile Pindars. Dazu Kreuzlieder, Tanzlieder und Tagelieder, die ihn wie einen modernen Kürenberger oder Oswald von Wolkenstein erscheinen lassen.
Fraglos findet sich in Lernet-Holenias frühen Gedichten eine Vielzahl von Beispielen, die von der Formenwelt Rilkes und Hofmannsthals zehrten: Inversionen und Enjambements in Fülle, liturgische Anklänge und Versuche, die Dinge selbst zum Sprechen zu bringen, wie dies Rilke in seinen 'Neuen Gedichten' so unvergleichlich gelungen war. Ja es mag sogar sein, Rilke sich deswegen so nachdrücklich bei Kippenberg für den jungen Lernet-Holenia einsetzte, weil er insgeheim nach einem Nachfolger suchte, nach einen literarischen Erben, der begabt genug war, dieses Erbe schöpferisch weiterzuführen. Denn dass es dem jungen Lernet-Holenia um eigenständige Anverwandlung der literarischen Traditionen ging, kann kaum in Zweifel stehen, wenn man sich ernsthaft mit diesen Gedichten beschäftigt.
Meditative Einsamkeit, Klage und Leiden standen im Mittelpunkt von Lernet-Holenias erstem wichtigem Band, dem 'Kanzonnair' (1923), den er Rilke gewidmet hatte. Anders als Rilke lenkte er darin das Augenmerk seiner Leser auf die Gestalt des Heiligen und seinen Opfertod. Nicht der Engel vermittelt in diesen Gedichten zwischen Diesseits und Jenseits; nicht seine 'Ordnungen' sind Massstab, sondern das selbt-los werdende Ich des Heiligen. 'Nichts nahm teil' am Martyrium des heiligen Pantaleon. Nichts an dem der heiligen Juliane. Darin scheint ihre eigentliche Qual zu liegen - wie auch die der Poeten. Wie könnte man auch teilnehmen an ihrer vermeintlich grenzenlosen Einsamkeit, die sie ja als kostbarsten Besitz auch zu pflegen wissen?
Wie grundverschieden sollte Lernet-Holenia dreissig Jahre später fragen. In seiner berühmt gewordenen Kontroverse mit Gottfried Benn über den monologischen oder dialogischen Charakter der Lyrik vertrat er die Ansicht, dass der Dichter die Pflicht habe, seinem Einsamkeitskult abzuschwören. Er, den man für einen reinen Ästheten und Manieristen hielt, forderte jetzt, um 1952/53, dass der Dichter aus sich herausgehen solle, um nicht an seiner Einsamkeit zu scheitern. Wir lesen in seinem Brief an Gottfried Benn: '....gegenwärtig sein heisst: der Zeit voraus sein.' Benn entgegnete: 'Drücke dein Ich aus, dann gibst du dein Leben weiter an das Du, dann gibst du deine Einsankeit weiter an die Gemeinschaft und die Ferne.'
Was hatte Lernet-Holenia aber dazu gebracht, die Einsamkeit des Dichters zu opfern? Die Antwort findet sich in seinem womöglich bedeutendsten Gedicht, der Elegie 'Germanien' (1946). In ihr wirkt der Dichter als unbequemer Zeuge im Prozess der Geschichte, der seinem Volk Steine des Anstosses in den Weg rollt. In keinem Gedicht jener Tage findet sich die Schuldfrage radikaler zugespitzt als in dieser Elegie: 'Schiebt nicht die Schuld auf andre, - diese Schuld / und alles andre Schuldsein!' Und abermals: 'Denn was ist Schuld! / Weil keiner sich von allen gegen die / gemeinsame, die ungeheuere, / erhob, war jeder schuldig.'
Im Anblick des Grauens, der Verbrechen und der Zerstörung kann das Künstlerische nicht länger unbedarft und 'rein' bleiben. Aber Lernet-Holenia bewahrte das Mass: er sagte nicht, das Gedicht nunmehr zur Worthalde werden müsse; statt dessen beharrte er darauf, die äussere Form, den Rhythmus, die Alliterationen zu wahren und sie bewusst in Widerspruch zu dem nicht mehr zu 'glättenden' Inhalt zu setzen. So beklagt er beispielsweise in seinem Gedicht 'Reiter 1953 II' den Bruch im Lebensrhythmus, der durch die Ungeheuerlichkeiten des Nationalsozialismus verursacht wurde, in vollendet sprachrhythmischen Gefügen, versteht sich: 'Der Schritt, der rhythmische, des Reiters ist / zerbrochen - voll unterdrückter Unrast taumelte / er seinem Ende zu - / des alten Trauerspieles letzte Zeile.' Er scheute sich nicht, 'Ross und Reiter' zu nennen, wissend, dass es ihm beschieden war, den Geist von Rilkes 'Cornet' endültig zu Grabe zu tragen. Was Lernet-Holenia wie kaum ein anderer Lyriker nach Rilke vermochte, war, den Widerspruch von Form und Inhalt darzustellen und auszuhalten. Mögen das Ross und Reiter auch 'im Nichts taumeln'; was sie hält, ist das Formgerüst des Gedichts.
Diese Ausgabe, deren geradezu ins Essayistische ausgreifender Anmerkungsapparat des Herausgebers Roman Rocek besonders angenehm auffällt, vermittelt aber auch den Eindruck, dass Lernet-Holenia im Gedicht einen Kosmos gesehen haben dürfte, in dem Geschichte und Anachronismus, Liebe und Opfer, Gnade und Martyrium ihren Ort finden. Diese Gedichte sind ihrerseits mögliche Urgründe für Neuschöpfungen, auch dann, wenn sie vom Nichts handeln.
Das Nüchterne, Wortkarge war Lernet-Holenias Sache nicht. Wollen wir ihn postum anklagen, weil er versuchte, die Worte mit ihren brüchigen Inhalten und geprägten Formen noch einmal ganz zur Sprache zu bringen?
Mit dieser vorzüglichen Ausgabe seiner Gedichte widerfährt Lernet-Holenia Gerechtigkeit: sie beweist, dass die Lyrik seine dichterische Hauptleistung gewesen war, wie er dies auch selbst immer wieder behauptet hat. Und warum? Weil ihm nur im Gedicht Sätze wie dieser gelungen sind: 'Flüchtend erst / gelingt uns, was dort Zuflucht ist zu schaffen....'"