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Alexander Lernet-Holenia
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Sylvia M. Patsch über Alexander Lernet-Holenia: Das lyrische Gesamtwerk. Hrsg. von Roman Rocek. Wien: Zsolnay 1989.

in der Zeitschrift 'Literatur und Kritik' (Heft 239/240, Nov./Dez. 1989, S. 471f)

Die Gedichte von Alexander Lernet-Holenia sind die unbekannte Seite eines Autors, der mit seinen Romanen wahre Anstürme auf Leihbibliotheken verursachte und mit seinen Komödien zu rasch verblaßtem Ruhm und Geld kam. Von seinen neun schmalen Lyrikbänden hat er das breite Publikum ferngehalten, indem er sie in Auflagen von 200 bis 600 Stück publizierte. Für die Gedichte wollte er einen erlesenen Kreis, nicht die Massen. Ein seltsames Phänomen: er fühlte sich ausschließlich als Lyriker, und gleichzeitig verbarg er sich als solcher. In einem Brief bekanne er: 'Eigentlich nur um das Leben, das zu führen ich gewohnt gewesen bin, nicht ganz aufgeben zu müssen, habe ich weite Strecken meiner Zeit der Epik und dem Theater gewidmet. Aber zuletzt bin ich weder Epiker noch Dramatiker und eigenlich überhaupt kein überzeugter Literat... Ich habe mein Leben lang viel arbeiten müssen, aber ich bin nicht überzeugt von der Vorteilhaftigkeit der Arbeit. Sie hindert uns, das Leben so zu führen, wie es seiner würdig wäre. Ich habe auf meine wenigen Gedichtbände unvergleichlich mehr Arbeit verwendet als auf meine übrigen vielen Bücher, und das Ergebnis ist, daß jene dennoch unvollkommen geblieben sind wie alle versuchten und wirklichen Kunstwerke, und daß diese einen Zug ins Dilettantische und Snobistische aufweisen, wie er mir selbst am unangenehmsten ist.'

Der Rezensent soll dem Leser nicht vorschreiben wollen, wie dieser ein Buch zu lesen hat. Ich möchte einmal eine Ausnahme machen: bei Lernets Gedichten spricht einiges dafür, nicht am Anfang einzusteigen, sondern genau in der Mitte, dem Band 'Die golden Horde'. Der von Rilke und Hermann Bahr entdeckte, von Benn und Trakl beeinflußte, gleichsam von diesen eingefärbte junge Lyriker ist nämlich in seinen frühen Gedichten sehr schwer verständlich: ein Meister komplizierter Gedicht- und Strophenformen, spröder Metaphern, kühner Wortbildungen, preziöser Adjektive gewagter Satzkonstruktionen, ein gelehrter Dichter, hermetisch, geheimnisvoll, kryptisch - und, wie Robert Neumann bewiesen hat - ein leichtes Opfer für Parodisten. Das Erlebnis- oder Naturgedicht, Inbegriff des Lyrischen Sich-Verströmens, ist ihm fremd. Der Herausgeber des lyrischen Gesamtwerks, Roman Rocek, nennt Lernets selbstgeschaffene Kunstprache 'eine Art Salonbarock'. Und auch die Themen der frühen Gedichte liegen uns Heutigen eher abseits: antike und biblische Gestalten aus dem Alten und Neuen Testament, Adam und Eva, Abraham und Jakob, Ruth und Salome und viele, viele Heilige würden einen sehr beschlagenenen Leser voraussetzen; treten die Gedichte doch in die Lebensgeschichten dieser Figuren nur im dramatischesten Augenblick ein, meist in jenen des Todes, während die Vorgeschichte vorausgesetzt wird. Gewalttätige, expressionistische Bilder, gezwängt in alte, traditionelle Formen: die Folge ist eine fast unerträgliche Spannung.

Nähert man sich dem Dichter jedoch zunächst in einer späteren Phase seiner Entwicklung, so ist zu beobachten, daß seine Sprache einfach ist, schlichter verständlicher, menschlicher. Roman Rocek führt diese Wandlung zu einem neuen Ton auf Lernets Erfahrung mit dem gesprochenen Wort auf der Bühne zurück. Die Gedichte aus der Sammlung Die goldene Horde sind auch weit entfernt vom reinen Fühlen, denn Lernet bleibt immer der Beobachter, der um Erkenntnisse ringt und nichts unmittelbar ergreift oder von ihm ergriffen wird. Das zeigt auch die auffallend hohe Zahl von Gedichten, die im Imperfekt und im Konjunktiv abgefaßt sind. Das Imperfekt ist nicht das Tempus der Lyrik, wohl aber jenes der Ballade. Und dramatisch-balladeske Verdichtung kennzeichnet die mittlere Phase, die Reife dieses immer noch Ringenden.

In seinen frühen Gedichten und besonders in den vielen Übertragungen von Petrarca, Dante und aus dem Französischen - er beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen vorzüglich - umkreiste er das Weibliche in immer neuen Annäherungen. In seiner letzten Phase rang er in der architektonisch großen, von Hölderlin übernommenen Form der Hymne um Geschichte: die der Antike, aber auch die österreichische.Mit Arbeiten wie der 'Hymne zum feierlichen Staatsakt Österreichs für Johann Wolfgang von Goethe am 18. August 1949' aus dem Band Das Feuer erkannte er, daß die neue Zeit keinen Platz mehr für einen Mann hatte, dem die Sprache des Gedichts so weit abgehoben war von jener des Alltags. Resignierend schrieb er im Alter von 52 Jahren: 'Nach Jahrtausenden der Schrift, ja nach der Überflutung durch die Schrift in der Gegenwart hat der Vers seine realistische Grundlage verloren und streckt die Waffen, eben jetzt in unserer Zeit, wie so und so vieles Andre. Man reitet ja auch nicht mehr, seit es Motoren gibt, und das einzig Mittelalterliche, das diese Zeit bestehen wird, ist, vielleicht, Gott...'

Lernet-Holenia starb 1976; fast dreißig Jahre hatte er nach dieser Verzichterklärung noch zu leben. Er hat mit Anstand auf sein Wichtigstes, das Gedicht, verzichtet.

Roman Rocek macht mit der sorgfältigen, sensibel und klug kommentierten Ausgabe einen der eigenartigsten Lyriker aus der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts zugänglich, von dem Hugo von Hofmannsthal sagte: 'Lernet kann alles, was er will'.